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Familie Wüstenhagen kann sich wieder um das Grab kümmern, nachdem der Friedhof In den Kisseln vier Wochen gesperrt war.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlin-Spandau: Das Leben kehrt zurück - auf den Friedhof

Wochenlang war Berlins größter Friedhof „In den Kisseln“ wegen Sturmschäden geschlossen. Für Angehörige endet eine lange Zeit seelischer Schmerzen.

Manfred Wüstenhagen steht neben dem Grab und zeichnet mit einer Kralle seiner Harke einen Kreis in die pechschwarze Erde. „Hier“, murmelt er, „hier pflanzen wir die Christrosen ein.“ Seine Tochter steht neben ihm, ihre Hände stecken in dünnen, lila Arbeitshandschuhen, sie nickt. Sonnenlicht fällt durch die Blätter hoher Bäume aufs Grab. Die Strahlen leuchten genau die Stelle am hellsten aus, an der Wüstenhagen seinen Kreis gezogen hat.

Ein schönes Bild, eines, das natürlich aus Zufall entstanden ist. Aber es hat zugleich etwas Symbolisches, als würde hier die entscheidende Stelle dieses Tages markiert. Denn in die Mitte des Kreises steckt Martina Wüstenhagen eine Vase, aus der zehn Rosen ragen. Dann sagt sie zufrieden: „So Mutti, jetzt hast Du endlich wieder frische Blumen.“

135 große Bäume wurden entwurzelt

Endlich. Ein Wort wie ein befreiender Seufzer. Endlich kann die Familie wieder zum Grab von Elly Wüstenhagen, der verstorbenen Ehefrau, der verstorbenen Mutter. Es ist Freitag, endlich ist der Friedhof „In den Kisseln“ in Spandau wieder geöffnet. Am 5. Oktober tobte der Sturm „Xavier“ durch Berlin, er fällte „In den Kisseln“ 135 hohe Bäume, die mit ihrer Wucht reihenweise Grabsteine umrissen. Und von den Bäumen, die stehen geblieben waren, drohten armdicke Äste herunterzustürzen. Über Nacht quasi war einer der größten Friedhöfe in Berlin, 62 Hektar groß, nicht mehr begehbar. Aus Sicherheitsgründen wurde er gesperrt. Rund sechs Wochen lang konnte kein Besucher mehr zu den Gräbern, 60 Bestattungen wurden kurzfristig verschoben.

Viele große Bäume wurden abgesägt.
Viele große Bäume wurden abgesägt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Über Nacht prallten zwei Welten aufeinander. Die der Behörden, die körperliche Unversehrtheit garantieren müssen und deshalb richtig gehandelt haben. Und die von Angehörigen, die plötzlich nicht mehr zu den Gräbern ihrer Lieben konnten. Ihre seelischen Schmerzen konnte niemand lindern. Es gab viele Angehörige, die litten, Menschen wie Manfred Wüstenhagen und seine Töchter Martina und Sabine. Manfred Wüstenhagen ist 79 Jahre alt, er geht schon ein wenig schleppend, sein Oberkörper ist gebeugt. Im vergangenen Jahr ist seine Frau gestorben, vor „Xavier“ besuchte er jeden zweiten Tag ihr Grab. Aber plötzlich waren die Tore verschlossen. Wüstenhagen kam trotzdem, er stand dann vor verschlossenen Toren, er blickte auf den Friedhof, er sah im Geist den Grabstein seiner Frau, er spürte die Verbundenheit mit ihr. „Ich war wenigstens in ihrer Nähe“, sagt er leise.

Angehörige kletterten über die Zäune

Wie oft stand er dort, am Tor, mit sehnsüchtigem Blick? Da schaut der 79-Jährige zu Boden, zwei Sekunden lang starrt er auf die Erde, bis er murmelt: „Das will ich lieber nicht sagen.“ Auf der anderen Seite des Grabs steht Martina Wüstenhagen, die Tochter. Sie blickt zu ihrem Vater – ein langer, mitfühlender Blick. „Ich habe die Friedhofsbesuche auch vermisst. Aber ich habe in dieser Zeit mehr an den Papa gedacht als an die Mama.“ Es war die Sorge, ob er alles gut übersteht.

Nicht alle Angehörige wollten einfach nur warten. Ein Mann in Arbeitskleidung, der auf dem Friedhof beschäftigt ist, habe Menschen gesehen, die über die Zäune geklettert sind oder andere Absperrungen überwunden haben. „Es waren sogar ältere Menschen dabei.“ Bei seelischen Schmerzen verschieben sich die Grenzen des normalen Verhaltens.

Der Friedhof In den Kisseln ist der größte Berlins.
Der Friedhof In den Kisseln ist der größte Berlins.

© Doris Spiekermann-Klaas

Schlimm traf es auch jene Angehörigen, die Beerdigungen organisiert hatten und nun, ohnehin vom Verlustschmerz geplagt, umplanen mussten. Zwei, drei Tage nach „Xavier“ fanden noch ausnahmsweise Bestattungen statt, aber dann war bis 1. November Schluss. Erst dann wurden wieder Bestattungen erlaubt, allerdings durften nur die betroffenen Trauergäste auf den Friedhof. Allein am Eröffnungstag fanden sieben Bestattungen statt. Mit einem Shuttleservice wurden die Trauergäste vom Haupteingang zur Friedhofskapelle gebracht. Dieses Prozedere gilt noch immer – so lange, bis wieder Privatautos auf das Gelände dürfen.

Zweimal musste er die Rosen wieder mit nach Hause nehmen

An einem anderen Grab, ein paar Meter von der Hauptallee entfernt, haben Helmut Sielaff und seine Tochter Monika wunderschöne Gerbera und Rosen abgelegt. Hier liegt die Ehefrau von Helmut Sielaff. Auch ihr Vater hatte, wie Manfred Wüstenhagen, vor verschlossenen Toren gewartet, erzählt Monika Sielaff; in der Hand hatte er frische Rosen. Zweimal hatte Helmut Sielaff die Hoffnung, dass er ans Grab seiner Frau gehen könnte. Zweimal musste er die Rosen wieder mit nach Hause nehmen.

Jetzt stehen Vater und Tochter vor diesem Grabstein, auf dem ein Steinmetz einen kleinen Vogel platziert hat, und schauen, ob es Sturmschäden gibt. Ein paar Pflanzen waren herausgerissen, mehr nicht. Sie haben nochmal Glück gehabt. Denn fünf Meter neben dem Grab steht ein abgesägter Baumstumpf. Wenn der Stamm auf ihr Grab gefallen wäre, hätte es übel ausgesehen.

Unklar ist nun, wer die Kosten für die Schäden übernimmt. Sicher ist nur, dass der Bezirk für die Sturmschäden an den Gräbern nicht bezahlt. Windstärken elf und zwölf sind höhere Gewalt, da zahlt höchstens eine Versicherung.

Ein Sturm, „das ist halt Natur“

Auch bei Susanne Jahn ist nichts passiert, das Grab ihrer Mutter hat einen flachen Stein, der kann nicht umfallen. Die Frau mit den langen, blonden Haaren und dem dicken Wollschal um den Hals kniet am Grab und wickelt ein Moosgesteck aus. „Ich bin froh, dass wieder geöffnet ist“, sagt sie. Andererseits hatte sie „keine Angst, dass etwas passiert ist“. Ein Sturm, „das ist halt Natur“. Dann steht sie auf und deutet mit einem Kopfnicken zu einer Reihe anderer Gräber. Nun ändert sich ihr Ton, von pragmatisch zu mitfühlend. Denn da drüben liegen Kindergräber. „Für Eltern, die ihre Kinder verloren haben, war die Schließung doch viel schlimmer. Die brauchen mehr Zeit zum Trauern.“

100 Meter weiter liegen auf einem Grab veilchenblaue Schleifen mit weißen Buchstaben: „Mama, Du fehlst. Deine Tochter Christina.“ Das Grab ist voll mit Rosen – frischen, wunderschönen Rosen. Sie stehen für eine bedeutende Nachricht: Der Friedhof ist wieder eröffnet.

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