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Berlin: In einem Haus vor unserer Zeit

Die Berliner Familie Boro hat für eine Doku-Serie zehn Wochen lang auf einem Bauernhof gelebt wie vor 100 Jahren

Früher. Wie fühlt sich das an? Wie riecht das, Vergangenheit? Ist es wirklich möglich, durch die Zeit zu reisen, sich zurückzuversetzen in Menschen, die vor 100 Jahren gelebt haben? Ja, sagen die Boros. Sie haben es geschafft: Marianne, die Mutter, Erzieherin. Ismail, der Vater, Werkstoffwissenschaftler und Unternehmer. Die Kinder Akay, Sera und Reya im Alter zwischen zwölf und 19. Manchmal waren da wirklich Augenblicke, sagen sie, da haben sie gemeint, jetzt ist Berlin auf einem anderen Stern, nein, eigentlich haben sie da schon nicht mehr gewusst, dass es Berlin wirklich gibt in ihrem Kosmos. Aber davon wird später noch die Rede sein.

Die Zeitreise hatten sich die Dokumentarfilmer vom Südwestrundfunk ausgedacht. Lange bevor die Boros das erste Mal von dem Projekt hörten, hatten sie bereits einen Architekten engagiert, der ein abgelegenes altes Haus im Schwarzwald, den Kaltwasserhof im Münstertal, originalgetreu wieder herstellte, der die Spuren von 100 Jahren beseitigte, die Toilettenschüssel herausriss, den Strom abklemmte, einen Nutzgarten anlegte und einen Herd mit Feuerlöchern baute.

Überleben ohne Hilfsmittel

Für die Boros begann das Abenteuer erst an einem Nachmittag Anfang 2001, als sie im Wohnzimmer ihres Reihenhäuschens in Lichterfelde saßen und „Brisant“ schauten. „Welche Familie will zehn Wochen in einem Schwarzwaldhaus wohnen wie vor hundert Jahren?“, fragte der Moderator. Die Regeln: Die Zeitreisenden bewegen sich frei – aber zu Fuß. Sie tragen die Kleider von damals, und sie ernähren sich wie damals üblich fast ausschließlich von Kartoffeln. Sie haben 28 Tiere zu versorgen, und Hilfsmittel gibt es nicht, außer einem Nottelefon in einer Kiste. Es gibt kein Fernsehen, kein Radio, kein Duschgel, keine Tampons, kein Aspirin, nicht einmal Unterwäsche.

Marianne, die ihren Kindern gern mal mit außergewöhnlichen pädagogischen Ideen kommt, fand das toll. „Wir sind Städter“, hat sie gesagt, „wir haben ein Haus, ihr habt Handys, und der Kühlschrank ist voll. Ich würde euch gerne zeigen, dass das Leben nicht aufhört, wenn all das nicht mehr da ist. Dass man auch ganz nackt noch Mensch ist und Bedeutung hat.“ Die Kinder sahen sich an und verdrehten die Augen. Als die Mutter die Bewerbung abschickte, ahnten sie noch nicht, dass die Organisatoren der Dokumentation die Familie perfekt finden würden wegen ihres humor- und liebevollen Umgangs miteinander.

„In den ersten Tagen sind wir auf dem Hof herumgestolpert wie Marsmenschen“, sagt Marianne Boro. Fast ein Jahr ist das jetzt her. Die Boros leben ihr Großstadtleben, und so langsam gewöhnen sie sich auch wieder daran. Bald wird ihre Zeitreise im Fernsehen zu sehen sein. Aber vieles wird dann fehlen. 300 Stunden Material hatten auf drei Stunden gekürzt werden müssen. Von der Liste zum Beispiel werden die Zuschauer nichts erfahren.

Was tagtäglich zu tun war, haben die Boros anfangs von einer Liste abhaken müssen: Kuhstall ausgemistet? Ok. Schwein gefüttert? Ok. Eier eingesammelt? Oh, Mist! Sie haben Bauer gespielt, haben nicht realisiert, dass das kein Spiel ist. Der Realitätsschock kam erst, als sich der Vater einen Leistenbruch holte. Leiden hatte noch keiner müssen vor ihren Augen, aber jetzt lag er da, im Bauernbett, ganz fahl im Gesicht. „Das hat mich echt erschreckt“, sagt Sera, die 17-Jährige, heute. Zwei Monate lang hat Ismail ein Bruchband getragen, eine Art Gürtel zum Stützen wie er ihn vor hundert Jahren auch hätte tragen müssen.

Für die Mädchen, für Sera und Reya, war es vielleicht am härtesten im Schwarzwald. Akay, der Kleine, sah nur das Abenteuer. Die Eltern hatten ihr Rüstzeug, einen Schild an Erfahrungen, der ihnen half, den Verzicht auszuhalten. Und sie sahen einen Sinn im Unternehmen, das sie „das Familienprojekt“ nannten. Für Sera und Reya aber hieß es, alles aufzugeben, was ihren Teenageralltag ausgemacht hatte: Kleider, Freunde, Freizeit. Sie standen um fünf auf und gingen um sieben zu Bett. Sie sahen an sich herunter und fanden sich hässlich. Sie trugen Unterkleid, Hemd, Rock, Weste und Schürze, alles gesmokt, also am Bündchen gerüscht, weil es Gummibänder ja noch nicht gab – was um die Taille gleich nach zehn Kilo mehr aussah. Körperpflege hieß Zähne putzen mit Bürsten aus Schweineborsten und einer Paste aus Seife und Fett. Sonntags badeten alle im gleichen Wasser. Eine ganz neue Definition von Sauberkeit.

Jeden Morgen um sechs mussten Sera und Reya melken. Anfassen, zudrücken, herausdrücken, die Stirn gegen die Tierflanke gelehnt. Zu Hause hatten sie das an einem Gummieuter geübt, da hatten sie sich noch gebogen vor Lachen. Auf dem Hof aber war Melken kein Spaß mehr, sondern überlebenswichtig. Wenn der Euter nicht schnell genug geleert wird, entzündet er sich. Dann gibt es weniger Milch, und die ist ein Hauptnahrungsmittel. Sera und Reya haben die Kuh immer in acht Minuten geschafft.

18 Liter brauchte die Familie am Tag, für die Suppe am Morgen aus zerdrücktem Brot und Milch darüber und zum Ansetzen von Frischkäse und Butter für den Verkauf. Einkaufen durften die Boros nur, was sie nicht selbst herstellen konnten – Petroleum, Salz, Streichhölzer, Kernseife, Mehl.

Die Einkäufe, das waren Ausflüge in die Gegenwart, schließlich hatte der Sender ja nicht das ganze Tal auf eine Zeitreise schicken können. Aber selbst im Edeka galten die Regeln weiter. Die Boros durften nur kaufen, was es vor hundert Jahren schon gab. Sie zahlten mit dem alten Geld, die Kassierer hatten Umrechnungstabellen. Und sie sparten. Milka-Schokolade hat es 1902 zwar schon gegeben. Aber ein Schwarzwaldbauer hätte sie sich nicht leisten können. Das waren die Augenblicke, in denen Akay trotzig wurde.

Irgendwann wurde aus dem Abenteuer Alltag. Irgendwann mussten die Boros nicht mehr nachdenken über die Abfolge der Pflichten. Die körperliche Arbeit ließ auch nicht viel Energie übrig für’s Denken, und so sind die Boros allmählich in die Vergangenheit gerutscht. Einmal haben die Mädchen eine Weide überquert und eine Kuh mit viel zu kleinen Euteröffnungen entdeckt. Wie schwer es sein muss, sie zu melken! Sie hatten echtes Mitleid mit der Magd, die sich mit dieser furchtbaren Kuh abplagen musste. Melkmaschinen waren in diesem Augenblick so irreal wie das Raumschiff Enterprise.

Rückkehr in eine virtuelle Welt

Es sind solche Momente, aus denen Regisseur Volker Heise nach Ende der Dreharbeiten geschlossen hat, dass das Experiment geglückt sei. Durch die Zeit reisen, die Boros haben es geschafft. Ihn hat das glücklich gemacht. Für die Boros gab es ungeahnte Schwierigkeiten. Sie erlebten ein paar schlimme Wochen, zurück in Berlin. Das wird wie früher, hatten sie vorher gedacht und sich nicht weiter gesorgt. Heute sagt Marianne, sie hätte sich manchmal psychologische Hilfe gewünscht, nachdem die Angst ums Überleben so real gewesen war und plötzlich wieder Überfluss herrschte.

Es war schwer, sich wieder zurechtzufinden. Marianne hat Tage gegen den Impuls ankämpfen müssen, zur Sparkasse zu gehen, um sich ihr Geld vorzählen zu lassen. Ist es auch wirklich da? Statt palettenweise Joghurt hat sie plötzlich nur noch drei Becher gekauft – als müsste sie sie immer noch in der Kiepe den Berg hinauftragen. Ihre Augen haben keinen Ruhepunkt mehr gefunden in der Großstadt, das hat sie nervös gemacht. Und die Kinder ertrugen es nicht, in der Schule stundenlang still zu sitzen. Reya haben die Lehrer anfangs noch erlaubt, während des Unterrichts auf und ab zu gehen.

Es habe sich angefühlt, sagt Marianne Boro, als seien sie aus dem wahren Leben in ein virtuelles zurückgekehrt.

„Schwarzwaldhaus 1902 – Leben wie vor 100 Jahren“ wird im Dezember ausgestrahlt: am 2., 4., 6. und 9., je 21 Uhr 45 im Ersten.

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