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In OMAS ZEITung (23): Allererste Klasse

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: 1800 Neuköllner Kinder bekommen eine funkelnagelneue Schule.

Für die „Neue Zeitung“ hat meine Oma Thea immer wieder über Schulen in West-Berlin geschrieben. Eine wöchentlich erscheinende Schulseite, wie heute im Tagesspiegel, gab es damals zwar noch nicht. Trotzdem scheint das Thema in der Stadt sehr präsent gewesen zu sein. Allerdings geht es in den Artikeln meiner Oma meist weniger um Inhalt und Qualität des Unterrichts. Sondern vielmehr um die sensationelle Tatsache, dass er überhaupt stattfinden kann.

Am 2. Dezember 1950 berichtet meine Großmutter von einem besonderen ersten Schultag für 1800 Neuköllner Kinder. Die Schüler ziehen um – „in ihre funkelnagelneue Schule, den modernen, soeben fertiggestellten Bau in der Elbestraße“. Der Abschied vom alten Schulgebäude erfolgt „ohne Tränen“, schreibt meine Oma. Schließlich bricht für die Kinder, die zuvor aus Platzmangel teilweise in einem Dreischichtensystem unterrichtet wurden, eine neue Zeit an. Eine Lehrerin will wissen, was ihren Schülern in der neuen Umgebung am besten gefällt. „Kein Finger bleibt unten, jeder will zuerst antworten“, heißt es in dem Artikel. „,Die Brauseräume haben wir zu Hause gar nicht! Das Radio – unseres ist lange nicht so schick! Die Turnhalle ist das beste! Der Schulhof, auf dem keine Steine herumliegen!‘“ Vor den Fenstern der Klassenzimmer hängen „helle, freundliche Gardinen“, schreibt meine Oma, „das schon allein erschien unfasslich“.

„Wer hier als Störenfried auftritt, wird in die alte Schule zurückgeschickt“

Große Aufregung bei den Kindern verursacht eine noch unbenutzte Steckdose – und die Verheißung, dass eines Tages wahrhaftig ein Fernsehapparat daran angeschlossen werden soll. Laut meiner Oma versprechen die Schüler, „nie mehr zu spät zu kommen, keine Kleckse auf die Tische zu machen, das Essen nicht mehr zu verschütten und den Schwamm für seinen eigentlichen Zweck zu benützen“. Ein Lehrer droht bei Zuwiderhandlung mit der Höchststrafe: „,Wer hier als Störenfried auftritt, wird in die alte Schule zurückgeschickt.’“

Aus meiner Schulzeit in Berlin habe ich leider keine hellen, freundlichen Gardinen in Erinnerung. Okay, auch auf meinen Wilmersdorfer Schulhöfen lagen keine Steine herum. Detaillierte Beschreibungen der vielen Brauseräume, die ich als Schüler und Sportler in allen Bezirken kennengelernt habe, möchte ich allen Lesern an dieser Stelle aber ersparen – vielleicht sitzen Sie ja gerade beim Frühstück.

In der Elbestraße wenigstens scheint der Geist des Umzugs von 1950 lebendig geblieben zu sein. Das Gebäude wird heute von der Elbe-Schule genutzt, einer kunstbetonten Grundschule. Ich habe die Direktorin gefragt: Ihre Schüler gehen sehr pfleglich mit der Schule um, sagt sie, „keine Schmierereien, viele Bilder an den Wänden, die auch hängen bleiben“. Vielleicht spüren die Kinder noch, mit wie viel Ehrfurcht ihre Vorgänger vor 65 Jahren in die Klassenzimmer eingezogen sind.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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