zum Hauptinhalt

In OMAS ZEITung (29): Flaschentomaten

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Eine mysteriöse Gemüselieferung verunsichert die Berliner Hausfrauen.

Die einen finden sie „fade“, die anderen „lieblich“ – klar ist nur: Solche Dinger hat in West-Berlin noch nie jemand gesehen. Über die Alpen sind die unheimlichen Neuankömmlinge in die Stadt geschleust worden, jetzt liegen sie bei den Gemüsehändlern und sorgen bei den Hausfrauen für Verunsicherung. Am 22. Oktober 1954 greift meine Oma Thea in der „Neuen Zeitung“ das Thema auf: Was sind das nur für Tomaten, die uns da untergejubelt worden sind?

„Was den Berlinern seit einigen Tagen unter der Bezeichnung der Tomate angeboten wird, erinnert – wenigstens äußerlich – nur noch in der Farbe an die einst charmant Liebes- oder Paradiesapfel getaufte Frucht“, schreibt sie. Schlanker als sonst sind die Tomaten, ihre rundlichen Kollegen werden nicht nur von meiner Oma schmerzlich vermisst. „Halten die italienischen Tomatenzüchter nichts mehr von den Formen Lollobrigidas und fordern H-Linie auch für Obst und Gemüse?“, fragt sie in ihrem Artikel.

„Ein italienischer Gemüsevertreter zuckte nur die Achseln: Noch nie gesehen"

1954 ist die Auswahl in den Geschäften anscheinend immer noch sehr überschaubar. Und die fremdartigen Tomaten werden nicht als willkommene Abwechslung wahrgenommen, sondern als Angriff auf vertraute Gewohnheiten. Selbst die Händler sind ratlos, wie meine Oma berichtet: „Ein italienischer Gemüsevertreter in Berlin, der zu Rate gezogen wurde, zuckte nur die Achseln: Noch nie gesehen.“

Ich persönlich bin bei Tomaten nicht nur ziemlich wählerisch, sondern auch experimentierfreudig. Ich esse die kleinen Dattelcherrytomaten genauso gern wie die wuchtigen Ochsenherztomaten, selbst vor grünen und gelben Tomaten schrecke ich nicht zurück. Auch in West-Berlin legt sich die Aufregung, wahrscheinlich trägt die sachliche Berichterstattung meiner Großmutter sogar dazu bei, die Lage zu beruhigen. „Groß- und Kleinhändler nannten die neuen Gebilde kurz entschlossen Flaschentomaten und servierten sie ihren Kunden“, berichtet sie. Und deckt auf, dass die Tomaten doch nicht völlig unbekannt in der Stadt sind: „Einige Hausfrauen erinnern sich, diese Tomatenart im Kriege schon mal in Büchsen erhalten zu haben.“

Zum Glück gibt es in den 1950er Jahren auch immer eine offizielle Stelle mit einem hochtrabenden Namen, die sich der Probleme der Bevölkerung annimmt. So wendet sich diesmal das „Berliner Ernährungskomitee“ an die Bürger, meine Oma gibt die Erklärung der Experten zur Tomatenfrage gerne an die Leser der „Neuen Zeitung“ weiter: „Sie haben nicht die feine Säure, wie wir sie von den deutschen und holländischen Tomaten gewohnt sind, dafür sind sie fleischiger und haben weniger Kerne.“ Man müsse die Tomaten „bei der Verarbeitung etwas anders abschmecken“. Wie genau das geht – mehr Salz, weniger Pfeffer, geschnitten auf Butterbrot, püriert für Fisch in Tomatentunke? –, das verrät meine Oma leider nicht.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false