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In OMAS ZEITung (36): Ernährungsfragen

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Oma Thea lernt etwas über Ernährung.

1945 schreibt meine Oma Thea in das Familien-Fotoalbum, das ihr als eine Art Tagebuch dient: „Am 1. Oktober wird unser Rolf geboren, der ein arger Schreihals ist und ewig Hunger hat, wie alle zu dieser Hungerzeit.“ Acht Jahre später ist die schlimmste Hungerzeit vorbei, West-Berlin hat wieder etwas zu beißen. Auch mein Vater Rolf muss nicht mehr ständig schreien – und die Berliner können sich endlich Gedanken darüber machen, was und wie sie essen wollen.

„Mehr Milchausschankstellen“

Zuständig für diese Fragen ist das Berliner Komitee für Ernährungsfragen (BKE), das auch die Vitaminisierung der Margarine vorantreibt. Meine Oma Thea berichtet am 2. Juli 1953 für die „Neue Zeitung“ von der 50. Sitzung des BKE. Ein Dozent namens Doktor Schubert stellt eine Studie vor. Ein Jahr lang wurden die Gewohnheiten von 25 Familien untersucht. Das Ergebnis: Die meisten Haushalte werden „noch keineswegs ernährungsbewusst“ geführt. „Vielfach stellten sich junge Frauen und Mädchen noch heute unter Vitaminen kleine Tierchen vor“, berichtet meine Oma. Doktor Schubert fordert mehr Volkshochschulkurse, Aufklärung durch Flugblätter, Ernährungsberatung im Rundfunk sowie „Pflichtvorlesungen für alle weiblichen Studenten“. Männer gelten anscheinend eher als Aufesser denn als Auftischer.

Ein zweiter Dozent, Professor Schormüller, erklärt, „den meisten Großstadtmenschen sei selbst das Gefühl für wirklich frische reine Butter verloren gegangen, wahrscheinlich, weil sie zeitweise nur überalterte Ware erhalten könnten“. Der Professor wünscht sich „mehr Milchausschankstellen“ und regt „die Beifügung von Vitaminen zum Mehl und Brot“ nach amerikanischem Vorbild an.

Nicht nur das BKE beschäftigt sich mit Ernährungsfragen, auch der Deutsche Hausfrauenbund lädt 1953 zu einer Podiumsdiskussion. Die Erste Vorsitzende Finni Pfannes (!) fordert, „dass der Fettgehalt der Milch in allen Teilen des Landes gleich hoch sei“. Zudem wünscht sie sich mehr Transparenz, Frau Pfannes meint das wortwörtlich: Es müsse möglich sein, den Inhalt einer Verpackung von außen zu erkennen, selbstverständlich auch bei Fischkonserven. Laut meiner Oma spricht Bürgermeister Dr. Walther Schreiber „den Hausfrauen für ihr Wirken seine Anerkennung aus“ und verspricht, sie „bei der Durchsetzung ihrer Forderungen zu unterstützen“. Zumindest bei den Fischkonserven lässt der Fortschritt aber auf sich warten – auch 2015 noch.

Ich glaube, meine Oma war 1953 einfach froh, jeden Tag genug zu essen für ihre beiden Kinder zu haben. Und ich kann mir vorstellen, dass sie die Aufregung der Doktoren und Professoren ein bisschen lächerlich fand. Möglicherweise hat sie sich sogar ein wenig lustig über sie gemacht: Den Artikel über die Hausfrauen hat sie jedenfalls nicht wie sonst mit ihrem Kürzel „D.Sp.“ gezeichnet. Sondern mit „Dr.Sp.“.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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