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In OMAS ZEITung (4): Texas-Willy

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: die Abenteuer des eigenwilligen Kreuzberger Bezirksbürgermeisters Willy Kressmann.

Tempelhof, Neukölln, Kreuzberg – das sind die Bezirke, für die meine Oma Thea bei der „Neuen Zeitung“ hauptsächlich zuständig ist. Sie hat das Reporterinnenglück, dass in Kreuzberg damals Bezirksbürgermeister Willy Kressmann regiert. Weil er nach einem Besuch in den USA gerne Cowboystiefel und Cowboyhut trägt, wird der Mann mit dem Instinkt für Schlagzeilen und publikumswirksame Auftritte in Berlin nur „Texas-Willy“ genannt. Wenn es in den 50ern schon Talkshows gegeben hätte, wäre Kressmann häufiger im Fernsehstudio gewesen als Heinz Buschkowsky. Aber der SPD-Politiker mit den buschigen Augenbrauen kümmert sich auch um seine Kreuzberger, die ihn verehren und ihn um Rat ersuchen.

Am 10. November 1954 berichtet meine Oma, dass Kressmann die Anfragen aus der Bevölkerung über den Kopf wachsen. „Nicht, weil man sich in diesem Bezirk mehr ärgert als anderswo“, heißt es in ihrem Artikel. „Vielleicht, weil man dort schneller bereit ist, den Mund aufzutun.“ Daran hat sich bis heute wohl wenig geändert.

Der von Kressmann eingerichtete Kummerkasten schlucke „jährlich 10.000 verärgerte und besorgte Briefe, Dankschreiben und Anregungen“, heißt es im Artikel. Zu Sprechstunden bei Texas-Willy haben sich im Laufe des Jahres 7000 Bürger eingefunden, also 135 pro Woche oder 27 pro Werktag. Die Probleme sind vielseitig. „Sei es, dass eine Mutter längere Zeit keine Post mehr von ihrem ausgewanderten Sohn erhält und einen Rat braucht, wie sie wieder in Kontakt mit ihm kommt“, führt meine Oma als Beispiel an. „Oder sei es, dass Eltern Schwierigkeiten mit der heranwachsenden Tochter haben.“

Im Berlin meiner Oma scheinen Bezirksbürgermeister so etwas wie Volkstribune zu sein – und Kressmann ist der größte von allen. Meine Großmutter, selber lebenslang SPD-Wählerin, berichtet, wenn er Rentnerinnen zum Geburtstag Blumensträuße vorbeibringt oder Kirschen an bedürftige Ost-Berliner verteilt. Im Frühjahr 1954 lässt Kressmann alle öffentlichen Gebäude in Kreuzberg beflaggen, weil sein SPD-Parteifreund und Oppositionsführer Erich Ollenhauer in Berlin zu Besuch ist. Daraufhin legt der Senat gesetzlich fest, dass allein die Stadt über Beflaggung entscheiden kann.

Neben kleinen Streichen macht Willy Kressmann auch große Politik, nimmt auf eigene Faust Kontakt zu den Bürgermeistern von Treptow, Friedrichshain und Mitte auf und schlägt vor, die Straßensperren zwischen Kreuzberg und Ost-Berlin abzubauen – was ihn sogar auf die Titelseite des „Spiegel“ katapultiert.

Mit der Popularität steigt die Zahl der Anfragen. Laut dem Artikel meiner Oma werden „immer mehr Probleme an den Bürgermeister herangetragen, die viel Einfühlungsvermögen und Zeit beanspruchen“. Kressmann richtet eine „Seelische Kummerstelle“ ein, in seinen Sprechstunden soll ihm künftig „eine lebenserfahrene, in vielen Fragen menschlicher Beziehungen geschulte Frau“ assistieren.

Auch ein echter Cowboy kann nicht alles alleine machen.

Diese Kolumne ist gedrucktin der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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