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In OMAS ZEITung (43): Versumpfung

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Tauwetter und Regen legen die Stadt lahm.

Morgens stapfen sie fluchend aus dem Haus: Frauen in Holzpantinen, Männer mit Putzlappen und Schuhbürsten bewaffnet. „Man kann beobachten, wie sie alte Ziegel vor die Gartentür legen und darüber auf die Straße balancieren“, schreibt meine Oma Thea. „Wie sie Steinschutt in Eimern herbeischleppen, um die schlimmsten Vertiefungen zu ebnen und passierbar zu machen.“ Anfang Februar 1952 haben Tauwetter und Regen die Randbezirke West-Berlins unter Wasser gesetzt. Und meine Großmutter berichtet unter der Überschrift „Straßen, die sich in Sümpfe verwandeln“ in der „Neuen Zeitung“ darüber. Wahrscheinlich auch mit der eigenen Not im Hinterkopf, schließlich wohnte sie damals in Lichtenrade ebenfalls in einer von Verschlammung bedrohten Gegend.

„15 Straßenbahnminuten vom Großstadtgetriebe entfernt lebt man dörflich“, berichtet sie, zentimeterhoch stehe das Wasser auf den lehmigen Wegen. „Und wer nicht schwimmen kann, muss zuhause bleiben“, zitiert sie anonyme Betroffene. Groß ist die Wut bei denjenigen, die jahrelang in sogenannte Pflasterkassen eingezahlt haben. Mit dem Geld sollten in neu erschlossenen Wohngebieten eigentlich Straßen gebaut werden. Darauf warten die Bewohner von Ortsteilen wie Buckow West, Rudow, Lichtenrade, Wittenau, Heiligensee, Lübars, Kladow oder Lankwitz aber noch immer. „Wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, wäre das Problem der Siedlungsstraßen längst gelöst“, analysiert meine Oma. „Die Pflasterkassen, die einen großen Teil der Straßenbauten finanzieren, ruhen zwangsläufig noch. Über ihre Zukunft soll am 26. Februar vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe entschieden werden.“

Bis dahin schicken die verzweifelten Berliner Sumpfbewohner wütende Briefe an ihre Bezirksbürgermeister und an den Senat. Der Tenor ist immer gleiche: Woanders werde fleißig gebaut, selbstverständlich aber immer an der falschen Stelle (nämlich nicht vor der eigenen Tür). In der Senatsabteilung für Bau- und Wohnungswesen ist man genervt von der Flut der Beschwerden, die Bezirksämter beteuern, es werde streng nach Vorschrift asphaltiert. „Man beginnt mit den Straßen, die für den Verkehr Bedeutung haben und mit denen der Allgemeinheit gedient ist“, erklärt meine Oma ihren Lesern, die Wünsche einzelner Anlieger könnten nicht berücksichtigt werden.

Als Beweis für das Ausmaß der hier und heute so kaum noch vorstellbaren Misere druckt die „Neue Zeitung“ ein Foto zweier älterer Damen, die gerade vergeblich versuchen, trockenen Fußes den Bühler Weg in Buckow West zu überqueren. In der Hand tragen sie ihre guten Schuhe, eine der beiden patscht mit ihrer Holzpantine gerade in eine monströse Pfütze, Regentropfen prasseln auf ihre Hüte, im Hintergrund ist ein bleigrauer Himmel zu erahnen. Die Versumpfung schreitet unaufhaltsam voran.
Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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