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In OMAS ZEITung (49): Im Archiv

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Ein Blick in alte Ausgaben der "Neuen Zeitung".

60 Jahre altes Zeitungspapier riecht erstaunlich gut. Nicht muffig oder staubig, sondern eher warm und gemütlich, als würde man mit Tee und Keksen bei seinen Großeltern auf der Couch sitzen. Die Texte, die meine Oma Thea für die „Neue Zeitung“ geschrieben hat, kenne ich bisher nur als eingescannte und ausgedruckte Schnipsel. Nach einem Jahr Kolumne wird es Zeit, sie im Original zu lesen. Im Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek, einem ehemaligen Getreidespeicher am Westhafen, sind die alten Exemplare der „Neuen Zeitung“ zu dicken Bänden gebunden – und wirken beim Durchblättern erstaunlich frisch.

Acht bis zwölf Seiten für 15 Pfennige

Zu ihren erfolgreichsten Zeiten erscheint die Berliner Ausgabe der „Neuen Zeitung“ sechs Mal pro Woche. Acht bis zwölf Seiten bekommt der Leser für 15 Pfennige. Die Sonntagsausgabe für den gleichen Preis ist sogar 20 Seiten stark, den Titel schmücken großformatig die besten Fotos der Woche. Dann folgt die harte Politik – Kalter Krieg, Adenauer, Ulbricht, Eisenhower. Die Lokalseite, für die meine Oma arbeitet, befindet sich ganz hinten.

„Früherer SS-Führer als falscher Frauenarzt“, lautet dort zum Beispiel eine Schlagzeile. Oder „Vopo kaperte Segelboot“. Oder „Neuer Tollwutfall in Lichterfelde“. Das Kinoprogramm, das die „Neue Zeitung“ abdruckt, ist streng nach Sektoren unterteilt: amerikanisch, britisch, französisch, sowjetisch. Anzeigen werben für Rotbart-Klingen („Gut rasiert, gut gelaunt“) oder eine „Internationale Damen-Ringkampf-Konkurrenz im Palais de Danse, Einlass 20 Uhr“.

Meine Lieblingsseite nennt sich "Pitt, der Jugendreporter“

Die amerikanischen Besatzer haben die „Neue Zeitung“ 1945 ins Leben gerufen, um den Deutschen Demokratie beizubringen, ihren Ursprung hat sie in der Abteilung für psychologische Kriegsführung der US-Armee. In den 50er Jahren ist das Blatt aber etwas anderes – nämlich eine richtig gute, moderne und unterhaltsame Zeitung. Etliche Ressort – „Sport und Spiel“, „Aus dem Wirtschaftsleben“, „Forschung und Wissen“, „Welt der Technik“, „Feuilleton- und Kunstbeilage“ – gibt es in ähnlicher Form auch in meiner Zeitung, dem Tagesspiegel von heute.

Die Redaktion bietet den Lesern auch über Hunderte von Folgen einen täglichen Englisch-Sprachkurs. Und am Wochenende kommt die Sonderseite „Für die Frau“ dazu, die der geneigten Leserin den Unterschied zwischen Sambabluse und Lavallière erklärt und „Mode für das gefährliche Alter“ empfiehlt. Meine Lieblingsseite nennt sich aber „Pitt, der Jugendreporter“. Hier stehen Reportagen aus dem ewigen Eis des Nordpols und vom Kilimandscharo, in einer Rubrik beantwortet Professor Kenntnisreich Wissensfragen von Peter Neugierig.

Und ganz hinten, wo meine Oma über Sumpfbiber und Milchpreise schreibt, tobt das wilde Berliner Leben: „Todesschuss auf Kellnerlehrling im Café Kongo am Kottbusser Damm“. Armes Schwein. Muss ich lesen.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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