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Berlin: Ingeborg Huth (Geb. 1926)

„Schätzchen, für mich sind schon ganz andere Männer aufgestanden.“

Vereinzelt noch hustet jemand, räuspert sich, flüstert ein Wort zu seinem Nachbarn. Die Geiger streichen ein letztes Mal probeweise über die Seiten. Die Türen zum Zuschauerraum werden geschlossen. Das Licht geht aus. Von links betritt der Dirigent den Orchestergraben. Rechts öffnet sich noch einmal die Saaltür. Herein rauscht eine Dame, burgunderrotes Haar, schwarzer knöchellanger Rock, paillettenbesetzte Bluse. Sie geht, vorbei an einem Herrn, der widerwillig nur sich erhebt, in die Mitte der ersten Reihe, zu dem einzig noch freien Platz. Der Herr mustert die Dame abschätzig, murrt: „Wenn Sie wissen, dass Sie in der ersten Reihe sitzen, dann kommen Sie rechtzeitig.“ Die Dame schaut dem Herrn fest in die Augen: „Schätzchen, für mich sind schon ganz andere Männer aufgestanden.“

Turnen und Tanzen wollte Ingeborg einst, auf der Bühne stehen, damals, als sie jung war, als Deutschland Krieg führte und Mädchen, die turnten und tanzten, keine ordentlichen Mädchen waren und abschätzig von den Leuten gemustert wurden.

Sie versucht es dennoch, heimlich, bewirbt sich auf der Akrobatikschule, tanzt vor im Admiralspalast. Die Prüfungskommission will sie nehmen, braucht nur noch die Unterschrift des Vaters. Ebenso könnte man verlangen, die Unterschrift des Papstes zu besorgen, denkt Ingeborg. Die Sache platzt. Der Traum bleibt.

Ingeborg liebt ihren Vater und ihre Mutter. In diesen Zeiten aber tanzt ein junges Mädchen wie sie eben nicht in glitzernden knappen Kleidchen. In diesen Zeiten tippt so ein junges Mädchen Briefe und Rechnungen bei Siemens, schaut in die müden Gesichter der Zwangsarbeiter. Rennt mehrmals am Tag hinab in den Luftschutzkeller, hofft jedes Mal, die kleine Wohnung darüber wiederzusehen. Stellt sich vor, einen ganzen Tag lang nur Schweinebraten, Eis und Torte zu essen. Steht am 8. Mai 1945 zwischen den ausgebrannten Häusern, will endlich ein wenig leben, ein wenig atmen.

Hin und wieder zieht sie ein helles Kleid an, das einzige nicht aus grobem Stoff, geht aus, in ein Tanzcafé, die alten Schritte und Drehungen zu probieren. Sie lacht, gleitet von Arm zu Arm, im leichten, schwingenden Rhythmus der Nachkriegsschlager. Tanzt besonders leicht und beschwingt mit einem jungen Mann, Erich. Erich bestaunt diese Frau, die sagt, was sie denkt. Deren liebste Farbe Rot ist. Die für die Lieder von Zarah Leander und für den Herbst schwärmt. Die nichts zu erschüttern scheint. 1952 heiraten sie. 1961 kommt Thorsten zur Welt.

Schon als Kind weiß Thorsten, dass er singen, auf der Bühne stehen möchte. Ingeborg begleitet ihn zu den Chorproben. Sie arbeitet im Bekleidungsgeschäft ihres Mannes. Kocht, wäscht, putzt. Holt Thorsten vom Gesangsunterricht ab. Bekommt 1970, mit 43, einen zweiten Sohn, Gunnar. Eine Nachbarin spricht die schwangere Ingeborg im Hausflur an: „Sagense mal, Frau Huth, sindse nicht bisschen zu alt für so was?“ – „Kriegen Sie das Kind oder ich?“

Thorsten bekommt Rollen in angesehenen Häusern, Ingeborg verpasst kaum eine Vorstellung. Liebt besonders „Die Fledermaus“, „My Fair Lady“, „Im weißen Rössl“, opulente Bühnenbilder und Kostüme. Sitzt in der ersten Reihe, schimmernd und funkelnd, in prächtigen Abendkleidern, redet und lacht auf den Feiern danach wie ein junges Mädchen, niemand schaut an ihr vorbei.

Im Herbst 2005 singt Thorsten die „Winterreise“ im Oranienburger Schloss. Nein, wehrt Ingeborg ab, dieses Mal fahre ich nicht mit. Thorsten erschrickt, bemerkt ihre dünnen Hände, die durchscheinende Haut.

Am 3. Oktober 2007 bleibt Ingeborg im Bett liegen. Thorsten will telefonieren, seinen Auftritt für diesen Abend absagen. „Das kommt nicht in Frage“, ruft Ingeborg, „du gehst und singst. Selbst wenn ich nicht mehr hier wär’, würde ich hochkommen und dir mit dem Sargdeckel auf den Kopf hauen.“ Am 4. Oktober ist sie tot. Tatjana Wulfert

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