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Berlin: Ingeborg Michael (Geb. 1927)

Dabei hatte sie sich nie sonderlich für ihr Jüdischsein interessiert

Die Tür fliegt auf. Ingeborg, 1,58, blond, Seidenschal, flattert ins Lehrerzimmer: „Schönen guten Morgen!“ Einem Kollegen ist das zu viel Frohsinn in der Früh, es kommt zu einem gereizten Wortwechsel, dann winkt er ab und sagt: „Ach Sie, die Sie immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen …“

Einige Jahre darauf bindet Ingeborg die Briefe ihrer jüngeren Schwester, 1944 aus einem Lager der Kinderlandverschickung geschrieben, in einem Heft zusammen. Den Briefen voran stellt sie eine Kurzform ihres Sonnenseitenlebens: In Bydgoszcz (Bromberg), Polen, ist Lieselotte am 25. Januar 1931 von einer jüdischen Mutter und einem evangelischen Vater geboren. Beide empfanden sich als Deutsche. Am Anfang des Krieges 1940 konnten sich meine Mutter, meine Schwester und ich ein Jahr verstecken. Dann fälschten wir meine Papiere und die meiner Schwester. Unsere Mutter ist Ende 1943 in Auschwitz vergast worden. Der Vater war im Gefängnis. Ich arbeitete als polnische Fremdarbeiterin zuerst im Haushalt, dann in einer Fabrik, beides in Berlin, vier Jahre lang. Nach dem Krieg machte meine Schwester das Abitur, bekam keinen Studienplatz für Slawistik und lernte Buchhändlerin. Mit 20 Jahren nahm sie sich im Dezember 1951 mit Schlaftabletten das Leben.

Nach dem Krieg fragte niemand nach und niemand sprach. Aber wer wollte, konnte Zeichen finden: Wenn Ingeborg in jeder Wohnung, in jedem Haus nach Ecken schaute, in denen sie sich hätte verstecken können. Wenn sie sagte: „Ich werde nie wieder frieren“ und die Heizung viel zu hoch stellte. Oder: „Es ist außerordentlich wichtig, sich gut zu kleiden“, und bis in die sechziger Jahre hinein das Haus nicht ohne Handschuhe verließ. Wenn sie vom Krieg wie ein Historiker sprach und ihre Ängste verschwieg. Anekdoten einstreute, die stets heiter endeten: „Als ich in Neukölln verschüttet unter den Trümmern lag und dieser junge Mann gekommen ist, um mir da herauszuhelfen. Können Sie gehen, hat er mich gefragt, und ich hab ihm geantwortet, mit Ihnen bis ans Ende der Welt.“ Wenn sie, alt schon, Dunkelheit in engen Räumen kaum aushalten konnte. Wenn sie mit schwarzer Tinte in ihr „Sommertagebuch 1989“ schrieb: Kleine größere Vogelspuren/ im Dünensand. / Lauter, schöner Lerchengesang / in den Lüften, im Mai und im September: Großvater Jacob starb / beim großen Sterben. Wenn sie nach ihrer Pensionierung zu einer jüdischen Therapeutin ging.

Dabei hatte sie sich nie sonderlich für ihr Jüdischsein interessiert, vor der Schoah. Es war selbstverständlich, dass ihr nichtjüdischer Vater, ein Viehhändler, auch koscheres Fleisch anbot. Genauso selbstverständlich war es, ihren orthodoxen Großvater ab und an ins Bethaus zu begleiten. Oder zu den zwei Frauen und zwei Männern, die zusammen in der Nähe von Bromberg auf einem Gehöft lebten, den 300-jährigen Verwandten, wie sie in der Familie genannt wurden, uralten Großtanten und Großcousins, bei denen sie im Frühling die ersten Radieschen auf Butterstullen aß, und die, zwei Wochen nach Einmarsch der Deutschen, erschossen wurden. Am Wege warten / Kindheitserinnerungen / in blauen Blumen.

Weder ihre jüdische Mutter noch ihr protestantischer Vater hatten es besonders mit der Religion. Ingeborg selbst bezeichnete sich als linke Feministin, eine politische Person, die bei den „Berliner Frauen für den Frieden“ mitwirkte, gegen die atomare Bedrohung und den Krieg in Jugoslawien kämpfte, und dafür, dass das Wasser in kommunale Hand gehört.

Aber das kam später. Jetzt war sie 18, war den Nazis entkommen, wollte leben. Das Land brauchte neue Lehrer, und so begann sie, Kindern im Juli 1945 Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Es gab kaum Papier, die Schüler brachten im Winter Kohlen mit, und als sie zum ersten Mal bunte Stifte verteilte, klatschten alle in die Hände. Sie begann Haikus zu dichten, sie begann zu malen, erst dunkle Blumen, dann immer hellere. An den Wegrändern / kurzes rotes Sommerglück: / der glühende Mohn.

Sie traf Rudolf. Jeden Tag bereitete er ihr das Frühstück, ritzte ihr ein zartes Wort auf das Stück Butter, nie in all den Jahren wäre sie im Bademantel an den Tisch geschlurft. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Sie kauften ein Haus an der Ostsee, und als es abbrannte, bauten sie ein neues. Sie besuchten in Italien romanische Kirchen. Er liebte Thomas Mann und sie sagte: „Ach, was soll ich mit den langen, komplizierten Sätzen?“ Sie gingen ins Theater, in die Liebermann-Villa und zu Manets „Fliederstrauß“ in die Alte Nationalgalerie.

Sie verloren ihren Sohn. Acht Monate hatte er nach einem Herzinfarkt im Koma gelegen. Er starb, und Ingeborg begann zu erlöschen. „Jetzt ist richtig Herbst“, hatte ihr ihre Schwester im Oktober 1944 geschrieben. „Die Tage sind jetzt immer so nebelschwer. In Berlin ist es vielleicht nicht so, weil man ja nicht so weit über Felder blicken kann und die vielen Häuser, jetzt Trümmerhaufen, einem die Aussicht versperren.“ Ein Schleier legte sich auf Ingeborgs Erinnerungen. Silbern/ blinken die Blätter,/ wenn/ am sonnigen Tag/ der Wind leise/ durch die Weide/ weht.

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