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© dpa

Interview: "In Ostdeutschland wird noch viel tabuisiert“

Jörg Schönbohm, Innenminister von Brandenburg spricht mit dem Tagesspiegel über steigende Gewaltkriminalität und erneute Kindstötungen in seinem Bundesland: Für ihn ein Zeichen fehlender Werte.

Die Gewaltkriminalität im Land ist im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen, seit Dezember haben junge Mütter vier Babys getötet. Was passiert da in Brandenburg?

Mir macht vor allem Sorge, dass so viele junge Menschen Gewaltstraftaten begehen. Fast die Hälfte der Gewalttäter ist jünger als 21. Und aus dieser Generation rekrutierten sich die meisten Rechts- und Linksextremisten, die Gewalt anwenden. Im vergangenen Jahr sind die Zahlen rechter und linker Gewalt leicht gestiegen, und die gesamte politisch motivierte Kriminalität verharrt in Brandenburg auf hohem Niveau. Aber auch bei Erwachsenen und ohne jeden politischen Hintergrund scheint die Bereitschaft zu wachsen, Gewalt anzuwenden. Das betrifft insbesondere die ländlichen Regionen. Außerdem schauen viele Menschen bei Problemen in ihrer Umgebung einfach weg. Ich vermute, dass die jungen Mütter, die ihre Babys getötet haben, unendlich einsam gewesen sein müssen.

Sie haben im August 2005 in einem Interview mit dem Tagesspiegel gesagt, die von der SED erzwungene Proletarisierung sei eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft in Ostdeutschland. Für diese Äußerung haben Sie reichlich Kritik einstecken müssen. Sehen Sie heute andere Ursachen der Gewaltbereitschaft in Brandenburg?

Ich würde heute den Begriff „Proletarisierung“ nicht mehr verwenden. Aber es ist eine Tatsache, dass in der DDR eine Entbürgerlichung und eine Entchristlichung stattgefunden haben. Das wirkt bis heute nach. In der DDR wurden schon zu Beginn die zehn Gebote Gottes durch Ulbrichts zehn Gebote der sozialistischen Moral ersetzt. Mit den Gottesdiensten ist dann auch eine Kulturtechnik des Miteinanders verloren gegangen.

Sollten die Kirchen etwa Missionare nach Ostdeutschland schicken, um die nachwirkenden Defizite der DDR zu beheben?

Eine Vermittlung christlicher Werte müsste stärker aus den Kirchen im Land selbst erfolgen. Aber die Kirchen sind schwach und der Zulauf ist gering. Nur wenige Eltern schicken ihre Kinder zum Konfirmandenunterricht. Wir müssen auch andere Wege gehen. Da ich selber im Seniorenalter bin, denke ich daran, dass ältere Menschen ihre Erfahrungen und Wertevorstellungen stärker in die Gesellschaft einbringen sollten. Sie können zum Beispiel nach dem Schulunterricht anbieten, aus ihrem Leben zu erzählen und aus Büchern vorzulesen, die zur deutschen Literatur gehören, oder Lesezirkel gründen. Wir wissen doch, dass viele Kinder heute kaum noch ein Buch in die Hand nehmen. Die mittlere Generation kann man mit solchen Aufgaben kaum betrauen, weil sie zu sehr im täglichen Existenzkampf steckt.

Gewaltkriminalität und Kindstötungen sind in den neuen Ländern weiter verbreitet als im Westen – obwohl die DDR schon seit 1990 nicht mehr existiert. Was ist seit der Wende schiefgegangen?

Ich wünschte, wir sprächen in Ostdeutschland offener über diese Probleme. Da wird noch viel tabuisiert. Dabei geht es gar nicht um eine kollektive Schuldzuweisung an die Ostdeutschen, sondern um die Suche nach Ursachen und Erklärungen. Ich nehme sehr ernst, wenn Manfred Stolpe von sittlicher Verwahrlosung und Extremismus im sozialen Umgang spricht. Oder wenn Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer die Folgen der Abtreibungspraxis aus DDR-Zeiten hinterfragt. Und ich frage mich bei den Kindstötungen: Wo ist der Mann, der angeblich nichts mitbekommt? Wo sind die Eltern, die Verwandten, Freunde und Nachbarn? Diese Gleichgültigkeit will mir nicht in den Kopf. Das ist eine enorme Herausforderung.

Alles nur eine Folge der SED-Diktatur?

Nach der Wende haben viele Menschen durch die abrupte Veränderung ihrer Lebensverhältnisse eine große Verunsicherung empfunden. Plötzlich war der Arbeitsplatz weg, der für viele auch Sinnstiftung war, und es gab Existenzangst. Das alte DDR-Korsett war verschwunden und in der Phase der Neuorientierung fühlten sich manche überfordert. So konnten Eltern zum Beispiel auch ihre Kinder nicht motivieren, sich in die soziale Marktwirtschaft einzuleben und die Demokratie zu verinnerlichen. Das könnten Erklärungen sein, warum der Osten stärker unter rechtsextremistischer Jugendgewalt leiden muss als der Westen. Und es fällt auf, dass der Anteil der allein erziehenden Frauen und der Single-Haushalte in den neuen Ländern erheblich größer ist als in der alten Bundesrepublik. Ohne die Stärkung der klassischen Familie und der bürgerlichen Tugenden ist aber keine wesentliche Veränderung möglich.

Sie lassen jeden Optimismus fahren, dass in Ihrer Amtszeit als Innenminister noch eine spürbare Abnahme von Gewaltbereitschaft und sozialer Gleichgültigkeit zu erwarten ist?

Ich habe 1990 gesagt, es dauert 15 Jahre, bis sich die Verhältnisse und Mentalitäten im Osten und im Westen angeglichen haben. Das war ein Irrtum. Es wird viel länger dauern. Aber es gibt auch Signale, die Hoffnung geben. In Brandenburg sehe ich in Städten und Dörfern Heimatvereine, überall werden Heimatfeste gefeiert. Das zeigt: Es wächst die Verbundenheit zum Ort und zum Land und damit eine Identität als Brandenburger. Das könnte eine Basis für mehr Gemeinsinn und weniger Gewaltbereitschaft sein. Auch das immer breitere Engagement gegen den politischen Extremismus im Land stimmt mich da zuversichtlich.

Der SPD-Landesvorstand mit Matthias Platzeck an der Spitze hat gerade ein Zwölf-Millionen-Euro teures Sozialpaket beschlossen. Vorgesehen sind unter anderem ein Härtefallfonds für bedürftige Schüler und ein landesweites Sozialticket für Busse und Bahnen. Kann der Staat mit einem solchen Fürsorgeprogramm weiterer Verwahrlosung vorbeugen?

Ich kann nicht erkennen, dass der Verzicht auf Geld für die Busfahrkarte die soziale Wärme erhöht. Für die CDU sind die Überlegungen nicht plausibel – es geht um mehr als um Geld.

Setzt die SPD die Koalition aufs Spiel?

Es ist ein Beschluss der Partei. Würde die SPD-Fraktion ein solches Sozialpaket unabgestimmt in den Landtag einbringen, wäre die Koalition in Gefahr. Die SPD muss wissen: Mit der CDU in der Regierung kann man keine linke Oberflächenpolitik betreiben. Wenn die SPD eine rot-rote Politik anstrebt, muss sie den Koalitionspartner wechseln.

Das Interview führten Frank Jansen und Thorsten Metzner.

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