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Berlin: Intime Zirkel

Sie waren Tausende, jetzt sind sie 200: die Berliner Hartz-IV-Demonstranten

Hätte es diese Zäsur in ihrem Leben nicht gegeben, wären sich Fred Schirrmacher und Felicitas Krauße wohl nie begegnet. Fred Schirrmacher wäre noch Maurer in Zühlsdorf und Felicitas Krauße Dozentin an der Universität Leipzig. Welten trennten die beiden, doch der Zorn gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV hat sie zusammengeführt. Seit einem Jahr marschieren sie gemeinsam mit der Montagsdemonstration durch die Stadt.

Immer noch, nur nimmt seit Wochen kaum noch jemand Notiz davon. Obwohl Hartz IV jetzt Wirklichkeit ist und nicht mehr nur eine Ankündigung. Obwohl die Arbeitslosenzahlen zu Jahresbeginn steil anstiegen. Fred Schirrmacher und Felicitas Krauße gehören zu den höchstens 200 Unentwegten, die sich als harter Kern einer Massenbewegung sehen. Nach dem Zerfall der großen Montagsdemonstration von Gewerkschaften, Kirchen und Attac blieben sie übrig, gestützt nur noch von der MLPD, einer obskuren Politsekte mit maoistischen Wurzeln.

Schirrmacher ist 42. Er trägt ein blassgelbes ärmelloses T-Shirt und um den Hals eine goldene Kette mit einem Löwen und einem Kreuz. Er verletzte sich schwer, als er 1999 beim Mauern aus dem zweiten Stock eines Hauses fiel. Seither hat er Höhenangst, wurde deshalb arbeitslos. Jetzt lässt er sich zum Steuerfachangestellten umschulen und hofft, dass er „in einer Firma unterkommt, in der man die Leute nicht so rumkommandiert“. Er hat die Fäden gern selbst in der Hand. Er hat sich daran gewöhnt.

Felicitas Krauße, 53, hat keine Hoffnung mehr auf Arbeit, sagt sie. Es ist lange her, dass sie aus der Bahn geworfen wurde. Die Universität hat sie 1989 entlassen. Sie fand nie mehr einen festen Job. Umschulungen, ABM, eine Kündigung in der Probezeit. Das neue System hat sie abgestoßen, jetzt rächt sie sich, indem sie das System abstößt. Sie hat ein Buch geschrieben, einen Roman mit dem Titel „Sie wollte die DDR retten“. Seit einem Jahr läuft sie in der ersten Reihe und hält das Führungstransparent.

Angefangen haben Schirrmacher und ein gutes Dutzend Leute, die zum harten Demo-Kern gehören, am 1. Dezember 2003, ein paar Wochen, bevor die Arbeitsmarktreform den Bundestag passierte. Schon länger hatte er das Gefühl, „dass vieles schief läuft in Deutschland“. Aber als die Regierung Ernst machte, da startete er einen Protestaufruf. Wenig später marschierten sie an jedem ersten Montag im Monat, seit gut einem Jahr wöchentlich. Anfangs waren sie fünfzig, im vergangenen Sommer aber zogen in ganz Deutschland Hunderttausende gegen Hartz IV auf die Straße. Die Masse, die für kurze Zeit zusammengefunden hat, ist längst wieder in ihre Einzelteile zerfallen. Sie machen weiter, jeden Montag.

Das heute ist ihre 54. Montagsdemonstration. Sie haben sich wie immer an der Weltzeituhr am Alex getroffen. Später zählt Dietrich Gayko, Historiker und Frührentner aus Hennigsdorf, etwas mehr als 120 Demonstranten. Gayko ist zuständig für die Statistik. Er trägt die Zahlen zu Hause in eine Liste ein. Felix Waltenhagen, sonst Siemens-Arbeiter aus Neukölln, montags Hartz-IV-Moderator, versucht Stimmung zu machen. „Schröder, Merkel, Stoi-ber – das sind die gleichen Räu-ber!“, skandiert er. Fred Schirrmacher nickt, fast unmerklich, automatisch. Der Spruch gehört zum Standard-Repertoire seiner Demo. Er sagt, er sei sehr politisch. Seine erste Frau war es nicht. „Das wurde zum Problem“, sagt Schirrmacher. Die zweite Frau und die neue Schwiegermutter ziehen mit.

Auch sie erinnern sich gerne an die Hochzeit des Hartz-Protestes im August 2004. Gewerkschafter und die Globalisierungskritiker von Attac luden Schirrmacher ein, um die Bündelung der Kräfte für die Montagsdemo am 16. August zu erörtern. Schirrmacher hatte seinen Zug angemeldet und weigerte sich, die Gesamtleitung abzugeben – es kam zum Krach mit der Folge, dass einige Kontrahenten mit den Fäusten aufeinander losgingen. Als Folge der Spaltung marschierten etwa 20000 Menschen mit Schirrmacher und seiner Gruppe, mit den Gewerkschaften noch mehr. Trotzdem, so sieht es Schirrmacher, hat er gewonnen. Man hört es noch heraus, wenn er sagt: „Wir waren einfach besser.“ Es klingt triumphierend.

Schirrmacher war kurzzeitig berühmt, interessant für die Medien. Vergangenheit. „Wir sind immer noch eine große Familie, nur sind jetzt ein paar Kinder aus dem Haus“, sagt Schirrmacher. Sie haben noch immer den Rückhalt der Masse, soll das heißen. Nur dass ihnen eben nicht mehr alle auf die Straße folgen. Felicitas Krauße sieht es auch so. Sie macht mit, „weil das Gemeinschaftsgefühl hier toll ist“. Familie, Wärme, Menschsein – wenigstens einmal in der Woche.

Der Zug ist am Rosenthaler Platz angekommen. Dann spielen sie ihre Hymne ab, „Hartz IV muss weg, Gerechtigkeit, lasst uns zusammenstehen“. Es ist ein langsames Lied, die Demonstranten stehen untergehakt, einige schunkeln im Takt mit. Rührung in vielen Gesichtern. Es geht das Gerücht, Paare hätten sich hier gefunden. Aber man weiß nicht, ob das stimmt oder ob es nur eine schöne Geschichte ist. Aber der Protest ist inzwischen wohl nur noch das eine. Das andere ist das Gefühl, nicht alleine zurückzubleiben. Auch wenn sie deutlich weniger geworden sind.

Marc Neller

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