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Berlin: Irene Boll (Geb. 1922)

Es war früh klar: Sie würde sich auf sich selbst verlassen müssen

In den letzten Monaten stand ihr Bett am großen Fenster im Erdgeschoss. Sie sah in den großen Garten mit den Obstbäumen, die so Widersprüchliches für sie bedeutet hatten: Last und Lust, Rettung vor Hunger und Gefahr für die Gesundheit. Im Krieg und in den kargen Jahren danach hatten die Früchte ihr und den Eltern das Überleben erleichtert. Ein Übermaß an Fruchtzucker wurde später für die Diabetikerin zum Problem.

Die Bäume waren eine Augenweide in der Blüte- und der Erntezeit, doch wegen ihrer schieren Zahl auch regelmäßig ein Grund fürs schlechte Gewissen. Mit ihrer steifen Hüfte konnte sie das Grundstück in Dahlem nie so hegen und pflegen, wie sie sich das wünschte. Die einzige engere Beziehung zu einem Mann scheiterte unter anderem an diesem Garten. Ernst mochte keine Gartenarbeit.

Auch mit der Blutbuche, deren Blätter sich im Frühjahr tiefrot färben, verband sich eine doppelte Botschaft: die Erinnerung an die berufliche Benachteiligung, weil sie eine Frau war, aber auch an den stolzen Moment ihrer Überwindung. Fünf ihrer Assistenten hatten den Wurzelballen 1965 in schwarzen Anzügen und Lackschuhen auf einem Leiterwagen gebracht, um ihre Habilitation zu feiern.

Lange davor hatte sie sich mit medizinischen Forschungen hervorgetan, hatte eine eigene Foto- und Filmtechnik zur Dokumentation der Zellvermehrung entwickelt. Doch die Oberarztstellen und Habilitationsverfahren blieben männlichen Bewerbern vorbehalten. 1959 war sie endlich Oberärztin am Krankenhaus Neukölln geworden – und erlebte, wie sich zwei Kollegen mit Schriften habilitierten, die auf ihren Forschungsergebnissen beruhten. Als auch sie sich um die Zulassung beim Dekan der FU bewarb, wies er sie ab: Er habilitiere nur Kandidaten, die an Universitätskliniken arbeiten. Neukölln war nur ein Städtisches Krankenhaus.

Erst als ein Fürsprecher Präsident des Internistenkongresses wurde, die Verleihung des Frerichs-Preises an sie einfädelte und das Fernsehen dazu einlud, fielen die Hürden für ihre Habilitation.

Mit der Blockade ihres Körpers haderte sie weiter. Sie war dreieinhalb gewesen, als die Schmerzen im linken Knie immer schlimmer wurden. Die Ärzte rätselten, erst der siebte stellte die richtige Diagnose: Brodie- Abszess im linken Hüftgelenk, der schleichende Beginn einer Knochenmarksentzündung. Das bedeutete: Beckengips vom Bauchnabel bis zu den Zehen, über Monate und Jahre. Antibiotika gab es noch nicht, man musste warten, bis der Abszess sich unter hohem Fieber öffnete.

Irene blieb ohne Geschwister; anderen Kindern konnte sie vom Bollerwagen, in dem sie herumgefahren wurde, beim Spielen zusehen. Mit sechs Jahren war sie endlich den Gips los, doch sie saß zunächst im Rollstuhl und musste das Gehen wieder lernen. Ihr linkes Bein blieb vier Zentimeter kürzer als das rechte und war steif.

Viele Vergnügungen und Perspektiven anderer Mädchen blieben ihr verschlossen: Tanzen, Flirten, die Aussicht auf Heirat, Familie, Kinder. Sie würde sich auf sich selbst verlassen müssen.

Sie studierte Medizin, als der Krieg tobte, fuhr zu Vorlesungen und Examina, als die Luftschutzsirenen ertönten und Häuser brannten. Besonders im Gedächtnis blieben ihr die Vorlesungen des Professors Sauerbruch an der Charité: Er führte den Studenten gerne gewagte Eingriffe an bluttriefenden Organen vor und bewies seine Fingerfertigkeit mit Operationen nach Stoppuhr.

In vorgerücktem Alter schloss sie Frieden mit ihrer Behinderung. Da hatte sie sich und der Welt längst bewiesen, dass sie zu den besten ihres Fachs gehörte. Sie war Chefärztin am Krankenhaus Neukölln, hatte mehr als 250 Doktoranden promoviert. Nach der Pensionierung stellte sie die Frage: Hätte sie das alles auch ohne die Krankheit erreicht? Wäre sie Ärztin geworden, hätte so viel Energie auf die Forschung verwendet ohne die Fehldiagnosen in ihrer Kindheit?

Kaum ein Ding im Leben ist nur gut oder nur schlecht – so wie ihr schöner Garten und die Bäume darin.

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