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Berlin: Jahrelange Flucht vor der Zwangsehe

Immer mehr türkische Jugendliche entziehen sich den Heiratsplänen, die ihre Eltern für sie haben. Oft müssen sie lange Zeit Rache fürchten

Vor den großen Ferien herrscht bei vielen jungen Türken Alarmstimmung: Jahr für Jahr nutzen die Eltern den Urlaub als Gelegenheit, ihre heranwachsenden Kinder mit Verwandten in der Heimat zu verheiraten, um ihnen den Nachzug nach Deutschland zu ermöglichen. Dann gibt es drei Möglichkeiten: die Eltern umstimmen, nachgeben oder den Bruch mit der Familie riskieren.

Die dritte Möglichkeit führt jedes Jahr verängstigte und Rat suchende junge Mädchen, mitunter auch junge Männer, direkt zur Behörde der Ausländerbeauftragten. Zuletzt waren es drei Schwestern aus den alten Bundesländern, die Hilfe brauchten: So wie ihre sieben Brüder sollten die 16- bis 19-jährigen Frauen Verwandte in der Türkei heiraten. Als sie merkten, dass sie ihren Vater nicht umstimmen konnten, flüchteten sie kurzerhand nach Berlin, um hier unterzutauchen. „Zwangsverheiratungen sind gang und gäbe und meistens geht es um Verwandte“, heißt es im Büro der Ausländerbeauftragten. Inzwischen setzten sich die jungen Leute jedoch stärker zur Wehr als früher üblich.

Aber das „zur Wehr setzen“ ist schwierig und braucht einen langen Atem. Im konkreten Fall der drei Mädchen hatte der Vater beim örtlichen Busunternehmen herausgefunden, dass seine Töchter nach Berlin gefahren waren. Irgendwie bekam er auch die Schule heraus und über die Schule die Adresse der Töchter. Seither müssen sie ständig auf der Hut sein, gegen ihren Willen zurückgebracht zu werden. Deshalb sei es sehr wichtig, die Pässe zu verstecken, um so wenigstens die Heirats-Reise in die Türkei zu verhindern. „Ich habe das Konsulat darum gebeten, in solchen Fällen keine Ersatzpässe auszustellen“, sagt eine Mitarbeiterin der Ausländerbeauftragten. Sie weiß, dass die Frauen jahrelang mit Racheakten oder Nachstellungen ihrer Familie rechnen müssen.

„Die Verwandtenehen sind Teil der wirtschaftlichen Überlebensstrategien aus vergangenen Jahrzehnten“, erläutert Christian Kayser, langjähriger Referatsleiter der Ausländerbeauftragten. Um diese Tradition durchzusetzen, übten die Familien „massiven Druck“ aus. Nicht immer sind die betroffenen Mädchen so couragiert wie die drei Schwestern. So kam kürzlich ein 18-jähriges Mädchen in die Beratung, das – wie in ihrer Familie üblich – mit ihrem Cousin in der Türkei verheiratet worden war. Jetzt sollte sie ihn nachholen und ihm dann ihre Arbeitserlaubnis abtreten. Das wollte sie nicht. Sie hatte Angst, behinderte Kinder zu bekommen. Aber das interessierte ihre Familie nicht. Das Mädchen gab nach. Wie schwierig es ist, sich dem Familienverdikt zu entziehen, zeigt auch der Fall einer Türkin, die vor 30 Jahren gegen den Willen ihres Vaters geheiratet hatte. Später hat sie aber alle ihre Kinder innerhalb der Familie verheiratet. Aufmerksam wurden die Behörden auf den Fall, weil die Mutter ihre Kinder ständig schlug.

Verwandtenehen sind weder in Deutschland noch in der Türkei verboten. In Deutschland sind sie aber aus Furcht vor den Gesundheitsrisiken extrem selten geworden.

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