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Berlin: Jede Zeitung ein Original

Die Düsseldorfer Künstlerin Leni Hoffmann bringt noch mehr Farbe ins Blatt: Die Malerin verziert den Tagesspiegel mit Farbstreifen und erhält einen Preis

Leni Hoffmann hängt am Tropf. Und ihre Operation ist schwierig. Es geht zwar nicht um Leben und Tod und auch ist es kein Blut, sondern nur Farbe, die aus den Plastikflaschen durch einen langen Infusionsschlauch tröpfelt. Aber die Düsseldorfer Künstlerin arbeitet am offenen Herzen dieser Zeitung - direkt in der Druckmaschine. Und die Anspannung im Druckhaus Spandau, in dem der Tagesspiegel gedruckt wird, war groß als gestern Abend die Motoren der Rotationspresse angeschmissen wurden. „Das ist wirklich Ausnahmezustand hier“, sagt Drucker Ulrich Naujoks. Um die Maschinen stehen Helfer und vier Holzkonstruktionen, in denen jeweils eine Plastikflasche mit Farbe hängt. Für jede der vier verwendeten Grundfarben Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz eine. Hoffmann steht auf einer kleinen Leiter mitten in der riesigen Maschine. Vor ihr donnert das Papier auf einer langen Bahn nach vorne, macht einen Knick und schießt knapp über ihrem Kopf zurück. In ihren Händen hält sie zwei Schlauchenden, aus denen die Farbe tropft, und wie mit einem Pinsel streift sie die Schläuche über das Papier. Mal ganz sanft und dann wieder kreuz und quer in wilder Bewegung. In ihrem Gesicht haben sich schon erste blaue Farbtupfer festgesetzt. Gute sechs Stunden steht sie so in der Maschine und verwandelt jede einzelne Ausgabe der heutigen Zeitung in ein kleines Kunstwerk. Mehr noch: Jeder Leser hält heute ein künstlerisches Unikat in seinen Händen.

Doch die Künstlerin ist nicht allein. Ihre Schwester Hilde steht auf einer Leiter neben ihr und prüft den Farbtropf. Gegenüber der Künstlerin steht Drucker Naujoks, ebenfalls mit zwei Schlauchenden in der Hand und „lässt Farbe auf das Papier gleiten“. „Die Farbe mehr in meine Streifen rein laufen lassen“, ruft Hoffmann ihrem Partner gegen den Lärm zu. Alle tragen sie Ohrenschützer - nur Hoffmann nicht. Sie will den Prozess mit allen Sinnen genießen.

Beim Aufbringen der Farbe entstehen Endloslinien, die in jeder Zeitung eine neue farbliche Konstellation eingehen. „Pizzicato. 114 ist 441“ nennt Hoffmann das Kunstprojekt – ein Zusammenspiel zwischen Künstlerin und Druckmaschine und eine Anspielung auf das Motto der vier Musketiere: Einer für alle und alle für einen. „Dieses Kunstwerk ist eine Mischung aus Malerei und Bildhauerei, es ist nicht an einen Ort gebunden“, sagt Hoffmann, „es verteilt sich über die ganze Stadt und über das ganze Land.“

Die erste Anspannung der Künstlerin löst sich, als ein Drucker mit dem ersten Exemplar kommt und alle ihr zurufen: „Es sieht toll aus.“ Doch Hoffmann hört noch nicht zu. Wie in Trance scheint sie mit den Farbschläuchen über das Papier zu tanzen. Knapp 28 Liter hat die Malerin verbraucht. Auch zwei Freiburger Studenten haben das Spektakel verfolgt. Hoffmann ist ihre Professorin für Malerei an der Freiburger Außenstelle der Karlsruher Akademie für Bildende Künste. Heute, um 18.30 Uhr, erhält sie im Martin-Gropius-Bau den Gabriele-Münter-Preis – einen der renommiertesten Kunstauszeichnungen.

Doch Hoffmann bangte erst einmal bis zum Schluss, dass alles glatt geht. Erst als sie ein erstes Exemplar in der Hand hält, wird aus Anspannung Freude und Euphorie: „Das ist ja wunderschön geworden.“

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