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Berlin: Jedes dritte Migrantenkind besucht keine Kita

Rund 4000 Mädchen und Jungen bleiben ohne vorschulische Förderung, wenn nächstes Jahr die Vorklassen abgeschafft werden

Die beschlossene Abschaffung der Vorklassen gefährdet den Schulerfolg von Kindern nichtdeutscher Herkunft weit mehr als bisher angenommen. Denn etwa ein Drittel dieser Kinder besucht keine Kita, sondern nur die Vorklasse. Wenn diese Einrichtung abgeschafft wird, kommen nächstes Jahr rund 4000 Kinder mit schlechten Sprachkenntnissen ohne jede vorschulische Förderung in die erste Klasse. Darauf aber ist Bildungssenator Klaus Böger (SPD) nicht vorbereitet.

Böger rechnet 2005 nur mit 600 Kindern, die mangels Deutschkenntnissen sechs Monate vor Schulbeginn einen verpflichtenden Sprachkurs an Grundschulen absolvieren sollen. Er geht davon aus, dass die Vorklassenkinder künftig einfach in ihren Kitas bleiben und dort Deutsch lernen. Ob Vorklassenkinder aber überhaupt zuvor in einer Kita waren, wurde bislang weder von Bögers Verwaltung noch von den Bezirken erfasst.

Auf Bitten des Tagesspiegels ist Neuköllns Jugendstadtrat Thomas Blesing (SPD) dieser Frage nachgegangen. Das Ergebnis lautet: Etwa ein Drittel der Neuköllner Kinder nichtdeutscher Herkunft sehen nie eine Kita von innen. Dies bedeutet, dass allein in Neukölln rund 500 Kinder pro Jahr auf den künftigen Pflicht-Sprachkurs angewiesen wären. Hochgerechnet auf ganz Berlin wären es rund 2700, denn in den anderen Bezirken ist die Situation ähnlich wie in Neukölln. „Die meisten Vorklassenkinder haben nie eine Kita besucht“, berichtet etwa der Weddinger Schulrat Wolfgang Köpnick. Da nächstes Jahr durch die vorgezogene Einschulung anderthalb Jahrgänge eingeschult werden, muss Böger mit rund 4000 Kindern rechnen, die einen Sprachkurs brauchen.

Böger geht zwar davon aus, dass er es mit gezielter Elternarbeit schafft, künftig mehr Familien für die Kitas zu gewinnen. Dass er damit Erfolg haben wird, bezweifelt aber der Türkische Bund. Laut Sprecher Safter Cinar halten Türken aus drei Gründen Abstand zu den Kitas: Kitas sind – anders als die Vorklassen – kostenpflichtig. Sie werden als „Aufbewahrungsangebot“ betrachtet, das aber nicht gebraucht wird, weil die Mütter meist zuhause sind. Vor allem aber weist Cinar darauf hin, dass es in der Türkei völlig unüblich ist, Kinder in Kitas zu schicken.

Aber selbst wenn es plötzlich gelingen würde, alle Eltern vom Nutzen der Kitas zu überzeugen, wären nicht alle Probleme gelöst. Die Sprachtests haben nämlich gezeigt, dass auch Kita-Kinder große Defizite haben. Fachleute wie Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen oder der Bündnisgrüne Bildungspolitiker Özcan Mutlu fordern, die Vorklassen vorläufig beizubehalten, weil es mehrere Jahre dauern werde, bis alle Erzieherinnen so qualifiziert sind, dass sie eine gute sprachliche Förderung leisten können.

Dass der Kitabesuch keine Garantie für den Schulerfolg ist, zeigt die jüngste Iglu-Studie: Brandenburgs Kinder gehörten beim Lesen zu den Schlusslichtern, obwohl 89 Prozent in einer Kita waren. Wenn die Erzieherinnen aber gut qualifiziert sind, können sie viel bewirken: Generell seien Viertklässler, die eine Kita besucht hatten, ihren Altersgenossen etwa ein halbes Jahr voraus.

Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) hatte unlängst im Tagesspiegel gefordert, Migranten, die ihre Kinder nicht in die Kita schicken, den Kitabeitrag von der Sozialhilfe abzuziehen. Berlins Migrationsbeauftragter Günter Piening lehnte diesen Vorschlag gestern ab. Um „bildungsferne Schichten“ in die Kitas zu holen, solle man sie von den Gebühren befreien.

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