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Berlin: Jochen Krutschinna (Geb. 1940)

„Ick bin nich’ schön, also jebick mir Mühe.“

Was glaubst du, wozu du in der Welt bist?“, wurde er in einer weinseligen Nacht gefragt. Jochen Krutschinna brauchte nicht lange nachzudenken: „Um Freude zu bereiten!“

Er war einer, der sich auf Partys das Hemd aufriss und tanzend Rosen verteilte. Einer, der keine Gelegenheit ausließ, andere zum Essen einzuladen, einer, der unverhofft Geschenke verteilte. Einer, der ein Segelboot namens „Otto“ besaß, auf dessen Deck in warmen Sommernächten Schampus, Wein und Komplimente im Übermaß flossen.

Jochen Krutschinna tischte seinen Freunden eine Welt auf, in der es keine Not und keinen Kummer gab. Eine Welt, nach der er sich selbst lange gesehnt hatte.

Er wuchs auf im Wedding, Liebenwalder Straße. Es war nicht die schlechteste aller Straßen. Sie beherbergte außer ihm noch fünfzig weitere Jungs, die genauso gern durch die Ruinen turnten wie er. Und die von ebensolchem Nervenkitzel befallen wurden, wenn das Licht über dem Hauseingang Nr. 27 erlosch. Wenn diese Lampe zerdeppert war, dann hatte die Liebenwalder der Gottschedstraße den Krieg erklärt. Fünfzig Liebenwalder gegen fünfzig Gottscheder. Nachdem man den Feinden ein paar Steine herübergeschickt hatte, wurden Unterhändler ausgesandt, die einen Ort für den wahren Hahnenkampf vereinbarten: Anführer gegen Anführer. Bubi Rogazki gegen Olaf Tonne, bis einer aufgab. Keine Messer, kein Nachtreten.

Jochen lebte mit Mutter und zehn Jahre jüngerer Schwester in einer Ein-Zimmer- Wohnung im dritten Hinterhof. Der Vater war zwar aus dem Krieg zurückgekehrt, aber nur, um zu sterben. Kälte, Hunger, eine mit Sorgen überladene Mutter, Jochen wusste, wie sich das Elend anfühlt, und er wusste, dass er es eines Tages abschütteln würde.

Sobald er daheim war, drehte er das Radio auf und lauschte AFN, dem Sender der Amerikaner. Jazz, Rock ’n’ Roll, gut gelaunte Moderatoren, diese Welt klang besser als seine. Er drehte sie nicht leiser, mochte die Mutter schimpfen wie sie wollte. Die kleine Schwester hingegen freute sich über Jochens Versuche, die Seufzer durch Rock ’n’ Roll zu ersetzen. Sie tanzte mit ihm über den Flur, und ergeben lauschte sie seinen Ratschlägen: „Wann immer du zauderst, ich sage dir: Tu’s. Wenn du scheiterst, hast du wenigstens eine Erinnerung.“ Ihr war er, was er später so vielen anderen wurde: Der Mut- und Muntermacher.

So froh war seine Mutter, dass sie ihm die Lehrstelle zum Feinmechaniker bei Osram verschaffen konnte. So ungern ging Jochen hin. Er, der aus der Enge flüchten wollte, sollte sich einfügen in die Hierarchien eines Betriebes?

Fahrkarten in die Ferne boten die „Jungen Europäischen Föderalisten“, ein Jugendverband der Alliierten. Auf ungeklärten Wegen verschafften Jochen und sein Kumpel Dieter sich Zutritt zu diesem Verband, dem viele Lehrer, Journalisten und andere Nicht-Wedding-Bewohner angehörten. Prompt wurden sie dort zur „Stimme des Volkes“ erklärt. Wann immer er neben der Lehre die Zeit dazu fand, ließ Jochen diese Stimme zur Unterhaltung aller Föderalisten in Frankreich, Dänemark und anderen Ländern erklingen, in die sie eingeladen wurden.

Nach seiner Ausbildung konnte er sich alles vorstellen, nur nicht ein Leben unter einem Chef. Auf Weihnachtsmärkten verkaufte er selbst gemachte Männchen aus Trockenpflaumen. Das war zwar besser als Osram, aber nicht einträglich genug. Gut, dass er so viele Leute kannte. Darunter auch ein altes Ehepaar, das am Viktoria-Luise-Platz ein Büro für Pferdewetten betrieb. Jochen half aus, Jochen wurde Teilhaber, Jochen übernahm das Wettbüro ganz. Die „Würfelbude“, wie er den Laden gerne nannte, warf genug ab.

Er verlegte sein Quartier nach Charlottenburg und eröffnete eine große WG. Der Kumpel Dieter, Studenten und Musiker zogen ein. Auch in dieser Gesellschaft bewährten sich Dieter und Jochen als „Stimme des Volkes“, eine Stimme, die auch den Frauen durchaus angenehm war. „Ick bin nich’ schön, also jebick mir Mühe“, erklärte er seinen Erfolg, und erntete schmeichelnden Protest.

Mit den Jahren wuchs die Konkurrenz. Jochen bot jetzt auch Lotto und Toto an, stand sechs Tage in der Woche von acht Uhr früh bis abends um elf im Laden. Aber er blieb dabei: Nur nicht einengen lassen von Arbeit und Sorgen.

Er fehlte auf keinem Ausflug, keinem Fest, er lud ein, er munterte die Klagenden auf und klagte selbst nie. Und alles sollte bleiben wie in den guten Zeiten. Er dachte nicht daran, die alten Ölschinken mit den Pferdemotiven gegen Bildschirme auszutauschen, blieb bei seinen Bistro-Tischen. „Tolle Location“, fand das Fernsehen, und drehte hier „Tatort“-Filme. Leider war der Laden aber nicht nur Tatort-Kulisse. Mehrmals ist Jochen überfallen worden. Als ihm einer einen Revolver über den Schädel zog, rastete der sonst so Friedliebende aus. Er hieb ein Stuhlbein ab, schreiend rannten die Diebe die Motzstrasse hoch, schreiend rannte Jochen hinterher.

Im Gespräch mit anderen spielte er solche Geschichten herunter. „Mir geht’s gut.“ Auch, als er an Diabetes erkrankte, blieb er dabei.

Die Schwester bemerkte, dass ihr Held sich veränderte. Dass er ruhiger wurde. Dass das Boot liegen blieb, weil Jochen lieber einen Spaziergang unternahm.

Er starb an plötzlichem Herzversagen. Keine Schmerzen, kein Siechtum, keine besorgten Gesichter. Es war ein Tod, wie Jochen ihn sich gewünscht hat, sagen die Freunde. Anne Jelena Schulte

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