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Berlin: Johanna Hartig (Geb. 1916)

Lebensberaterin und Zuhörerin, Neben- beschäftigung: Kosmetik.

Von David Ensikat

Sie war eine jener starken Frauen, denen gar nichts übrig blieb, als stark zu sein. Ans Theater wollte sie, als Schauspielerin; ihr Vater, Streckeninspektor bei der Bahn, lachte sie dafür nur aus. Immerhin ließ er sie studieren, Theaterwissenschaft und Journalistik. Sie brachte das nicht zu Ende, denn es kamen ein Mann, ein Kind und außerdem ein Krieg.

Ihr Mann erkrankte an Tuberkulose, sie pflegte ihn, verdunstete Kamillentee in seinem Zimmer, verbrachte ihre Nächte im Zimmer nebenan mit einem Faden am Zeh, an dem er zog, wenn es ihm schlecht ging. Bis er irgendwann nicht mehr zog. Mit 27 war Johanna Witwe. Und Mutter einer Tochter von zwei Jahren.

Es war das Jahr 1943, Bomben fielen auf Berlin. Sie zog nach Wien, dort war es ruhiger, zunächst. Und es gab dort einen neuen Mann, jenen, der die zweite Tochter zeugte. Die Mutter mochte er jedoch nicht heiraten, sie war „unter Stand“.

Der Krieg war aus, Johanna 30 Jahre alt und Mutter zweier Töchter. Sie zog nach Berlin zurück, in die Spandauer Wohnung, die sie sechs Jahre zuvor bezogen hatte, in der ihr Ehemann gestorben war. Dort wohnte sie bis an ihr Lebensende – das im Jahr 1946 schon einmal kurz bevorzustehen schien. Sie war bei einer Reihenuntersuchung gewesen und bekam den Bescheid zugesandt: Auf dem Röntgenbild ihrer Lunge habe man einen schwarzen Fleck entdeckt, TBC, weit fortgeschritten, es bleibe ihr nicht mehr viel Zeit auf dieser Erde. Sie möge sich am Montag bei der Untersuchungsstelle melden. Die Tage bis dahin, so erzählte sie es später, waren fürchterlich. Sie hatte ja erfahren, wie ein Tuberkulose- Tod ausah. Und da waren ihre beiden Töchter, die eine sechs, die andere nicht einmal ein Jahr. Was sollte aus denen werden? Am Montag dann der Amtsarzt: Entschuldigen Sie bitte, junge Frau, eine Verwechslung. Das war ja gar nicht ihre Lunge auf dem Röntgenbild. Da werden Sie aber erleichtert sein, was?

Das Leben also, es ging weiter, das Überleben, Tag um Tag. Zu Ostern bastelte sie bunte Sträuße und lief damit von Haus zu Haus. Jahre später zeigte sie manchmal auf Türen in der Nachbarschaft: Hier haben sie mir einen Strauß abgekauft, damals. So erzählte sie von jenen Jahren, so nahm sie das Leben: Dankbar für das Glück, das sie hatte.

Man weiß nie, wofür's gut ist – das war, so sagen es die Töchter, eine Art Lebensmaxime. Sie hat das gern gesagt, im sicheren Bewusstsein, dass alles, was geschah, am Ende gut sei.

Etwa die Stromsperren in der Blockadezeit: Die waren dazu gut, die Stunde davor so schön wie möglich zu gestalten. Da legte sie sich zu den Töchtern ins Bett und las ihnen im letzten Schein der Glühlampe Märchen vor. Dazu gab es geröstete Schwarzbrotscheiben mit Zucker drauf.

Als sie eine Ausbildung zur Kosmetikerin machte, am Nollendorfplatz, weit weg von Spandau, stellte sie einen Wecker in das Fenster. Da konnte die große Tochter, die draußen spielte, sehen, wann sie hinein musste, um der Schwester die Milchflasche in den Mund zu stecken: wenn der große Zeiger oben und der kleine auf der Drei stand.

Johanna lieh sich 500 Mark, kaufte einen großen Spiegel, einen Behandlungsstuhl, Puder, Creme und Tusche und wurde Lebensberaterin und Zuhörerin, Nebenbeschäftigung: Kosmetik. Wenn die Töchter das Geld im Holzdöschen klacken hörten, wussten sie: Jetzt ist die Mutter wieder für uns da.

Heinz Hartig war ihr dritter Mann, der zweite, den sie heiratete. Das hat sie erst kurz vor seinem Tod getan, 1978. Es war ohnehin eher eine Wochenendbeziehung. Ihre Unabhängigkeit war Johanna wichtig, sie wusste, dass sie allein zurechtkam.

Was nicht heißt, dass die Familie nicht wichtig war, lauter Töchter, Johannas zwei, fünf Enkeltöchter, zwei Urenkelinnen. Für alle war sie da, immer in ihrer Spandauer Wohnung. Wenn eine bei ihr war und sich schließlich verabschiedete, bekam sie Brötchen auf den Weg, mit Salzbutter beschmiert. Die Frau wusste, was im Leben wichtig ist. David Ensikat

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