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Berlin: Josef Joraschek (Geb. 1924)

Mayatempel statt Mietskasernen, Hindukusch statt Harz

Seen, Hügel, Wälder, ein katholisches Dorf, Stenkienen in den Masuren. Josef, noch nicht 18, steigt an einem Freitagnachmittag im Herbst 1942 aus dem Zug, froh, das Wochenende auf dem Hof seiner Eltern verbringen zu können, winkt seiner Schwester, die am Bahnhof mit einem Pferdewagen auf ihn wartet, sie winkt nicht, sondern reicht ihm einen Brief: die Aufforderung, sich bei der Wehrmacht zu melden.

Das Weiße Haus, die Hänge des Mont Royal, Basare in Kabul, die Tempel Seouls, die Strände Sri Lankas, das Abendessen mit dem saudischen Außenminister, die Wohnung mit Blick auf den Bosporus.

Von Stenkienen in die Welt.

In der Zeit dazwischen liegt die Hölle. Sein erster Fronteinsatz, ein Himmelfahrtskommando. Josef hat die Eisenbahnstrecke bei Minsk zu sichern, muss mehrmals täglich den Weg durch dichte Wälder ablaufen, um festzustellen, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, ob die Partisanen Sprengsätze an die Schienen gelegt hatten. Die Partisanen konnten sich in den Wäldern verstecken und uns wie Hasen abschießen. Einige Kameraden hat es auch erwischt. Während eines Angriffs auf ein russisches Dorf sucht er Deckung hinter einem Haus. Plötzlich glaubte ich, mein linkes Bein würde abgerissen, und fiel zu Boden. Nach dem Lazarett geht es weiter. Eine Kugel trifft ihn an der Schulter. Ein Major sagt: „Wem sein Leben lieb ist, gehe in russische Gefangenschaft.“ Er kommt in ein Lager im Ural. Friert, träumt von Essen, arbeitet im Bergwerk. Und lernt Gedichte. Im April 1949 steigt er in einen Zug und kommt am 6. Mai in Deutschland an. Die Euphorie hielt sich in Grenzen, gab es doch für mich keine Heimat. Er fährt zu Verwandten nach Berlin. Seine Mutter, hört er, seine Schwester, sein Bruder sind tot.

Er lebt. Es ist schwer. Ich versuche, mich wie die Jugendlichen zu kleiden. Schuhe mit Kreppsohlen, bunte Socken, Hochwasserhosen, damit man die Socken sehen kann. Jung sein, die Jahre nachholen. Lernen, tanzen, sich verlieben. Er studiert Bauwesen und Architektur, er dreht sich mit Eve im Dreivierteltakt, er heiratet sie. Dann beginnt die große Reise: Ab 1. Januar 1960 werde ich als Bauleiter für den von Prof. Egon Eiermann entworfenen Botschaftsneubau in Washington eingeteilt.

30 Jahre lang beaufsichtigt er den Bau von Goethe-Instituten, Schulen und Botschaften, Berlin ist nur noch Zwischenstation. Er repräsentiert Deutschland, und Deutschland ist weit weg. Mayatempel statt Mietskasernen, Kakteen statt Kiefernschonungen, Sashimi statt Schnitzel, Hindukusch statt Harz. Weltläufigkeit, kein Wirtschaftswundermief. Überall sprechen, bewegen, lachen, essen, wohnen die Menschen anders. Es ist beglückend, die Unterschiede zu sehen, immer ein wenig so wie die Leute im Land zu leben. Die Unkompliziertheit der Amerikaner: Ein älterer Herr betritt während des Umbaus das Goethe-Institut, kommt auf mich zu und stellt sich als John McCloy vor. Ich antworte: „My name is Joe Joraschek.“ Er sagt: „Hi Joe.“ Ich sage: „Hi John.“ Mit dem afghanischen Finanzminister geht er auf Schraubenhornschafjagd. Der erste Spatenstich für die neue Botschaft in Seoul darf erst nach einer Geisterbeschwörung erfolgen, denn was bleibt, sind die Kräfte der Natur und die Geister der Toten. In Korea fühlen sich Josef und Eve besonders wohl. Warum, fragt ein Freund. „Vielleicht, weil alle so klein sind, wie wir“, antworten sie lachend. Und ziehen weiter. Steigen wieder ins Flugzeug, landen in Sydney, Peking, Paris, Jeddah, Kairo. 14 Mal packt Eve den Hausrat zusammen, die Möbel werden verschifft, geflogen oder mit der Transsibirischen Eisenbahn gebracht. Sie plaudern mit Genscher und dem japanischen Kronprinzen. Eve lernt die Tuschmalerei Sumi-e und kocht für Gäste. „Unter fünf Gängen sind wie da nie rausgegangen“, sagt eine Freundin. Josef bekommt das Bundesverdienstkreuz und schreibt: Meinen ersten Orden habe ich in Russland für das Sprengen von Brücken und Häusern erhalten. Um wie viel wertvoller ist mir dieser, der mir für die Errichtung von Gebäuden verliehen wurde.

Am 6. November 1989 kehren sie zurück aus der Welt. Über unseren Ruhestand zu schreiben, fällt mir recht schwer, denn Eve und ich haben wenig Zeit! Zwei Mal in der Woche Tanzkurs. Zehn Bälle pro Saison. Theater, Konzerte, Museen. Ein Interview im „Stern“ über die Liebe. Ein Flug mit der Concorde. Die Mitgliedschaft in der „Confrérie de la Chaîne des Rôtisseurs“, einer gastronomischen Gesellschaft. Die Organisation von Ausstellungen: seine Briefmarken, darauf Bauwerke, zusammen mit dazugehörigen Originalskizzen, etwa der Philharmonie von Scharoun. Reisen. Modelauftritte auf der Fashion Week. Eves 90. Geburtstag. Und dann, 2014: Eves Tod.

In dem Interview über die Liebe sagt sie: „Also, ich würde den Josef immer wieder heiraten. Wissen Sie was? Wir wachen morgens immer noch Händchen haltend zusammen auf.“ Und Josef fügt hinzu: „Eigentlich haben wir nur eine Angst: Vor dem Moment, in dem der eine stirbt und der andere zurückbleibt.“

Er bleibt zurück, ein Jahr lang.

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