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Berlin: Jürgen Müller (Geb. 1941)

Diese verrückte Welt da draußen ist nicht mehr seine Welt

Ein Moment tiefer Zufriedenheit. Gerade ist sein Sohn, ein einfacher Schriftsetzer, genau wie er, zum Regierenden Bürgermeister gewählt worden. Jürgen Müller lächelt milde, ein Diogenes-Lächeln. Diese verrückte Welt da draußen, mit ihren Affären und Allüren, dem digitalen Dauerstrom an Nachrichten und Kommentaren, den Usergemeinden und Pop-up-Stores, ist nicht mehr seine. Aber das macht nichts, denn Jürgen Müller sitzt ja drinnen, an seinem Schreibtisch, umgeben von 400 Bleisatzkästen und einer Tiegeldruckpresse, die maximal 2000 Seiten schafft pro Stunde. Ein Museum der Drucktechnik, aber der Direktor legt Wert darauf, dass alles funktioniert. Aufträge für Gruß- oder Visitenkarten nimmt er jederzeit entgegen. Sein Spezialgebiet: Traueranzeigen.

Die Szene spielt im Dezember vor einem Jahr. Jürgen Müller ist schon schwer krank, Diabetes, aber er ist voller Freude in diesen Minuten. Abends wollen sie zusammen feiern.

Tempelhof, das Viertel am Flughafen, ist sein Revier. Hier hat er Wahlkampf gemacht für die SPD, war Bezirksverordneter, hat sich für die Selbstständigen engagiert, Handwerker und Ladenbesitzer, Leute wie er, die ihre Tempelhofer Kundschaft bedienten, während andere die großen Räder drehten. An den Vater, 1946 gestorben, kann er sich nicht erinnern. Die Mutter hatte einen Spielzeugladen und arbeitete später bei Woolworth. Sie hatte ihn in die SPD geholt, wechselte aber später zur CDU. Jürgen wechselte nicht mit, auch wenn ihn das die politische Karriere kostete. Sein Kiez, Neu-Tempelhof, war eine Hochburg der CDU. Jedes Mal unterlag er im Duell mit CDU-Landeschef Peter Lorenz. Auf der Bezirksliste seiner Partei stand er immer auf Platz sechs; die fünf vor ihm zogen ins Abgeordnetenhaus. Das war kein Zufall. Müller galt als schwer berechenbar, der stimmte auch mal gegen die Parteilinie.

Jürgen Müller stritt gerne zu Hause über politische Themen, weil nie die Gefahr bestand, dass die Diskussion den Familienfrieden störte. Als die rot-schwarze Koalition 2001 zerbrach, votierte er vehement für Rot-Rot, während sein Sohn mit Parteifreund Wowereit mit FDP und Grünen die Ampel plante. Als der Flughafen Tempelhof geschlossen werden sollte, wollte er ihn offen halten gegen den Widerstand seines Sohnes und der Mehrheit in der SPD. War eben auch ein Konservativer, der Müller senior, konservativ sozialdemokratisch.

In der „Zeit“ erschien 2013 ein Dreierporträt der Müller-Männer Jürgen, Michael und Max, des Enkels – „die Herren Müller von der SPD“. Der Autor äußerte im Recherchegespräch den Verdacht, die Gremienarbeit in der SPD könne etwas altmodisch, vielleicht sogar sterbenslangweilig sein. Die Herren von der SPD antworteten ohne Worte: „Der Großvater lächelt einen nur an, der Vater zuckt mit den Achseln und der Sohn pustet sich die Haare aus dem Gesicht.“ Parteitermine sind Pflichttermine, sagt ein guter Freund von Jürgen Müller. Viele Jüngere in der SPD seien daran nicht mehr gewöhnt.

Jürgen Müller ist Fan von Willy Brandt, wegen der Ostpolitik, der konsequenten Friedenspolitik. Er gilt als Pazifist und ist tief entsetzt, als die SPD mit ihrem Kanzler Gerhard Schröder in den Kosovokrieg zieht. So was dürften Politiker nicht einfach beschließen, findet er.

Er ist Idealist und lässt sich von der historischen Wahrheit nicht einfach seine Träume zerstören. Auch das wird in dem „Zeit“-Artikel deutlich: „Und wenn man den Enkel fragt, was er denn unter Sozialismus versteht, sagt er: ,Das ist die Idee der Gerechtigkeit. Es gab viele Verbrechen deshalb, aber es ist ein Ziel, das sich anzustreben lohnt.‘ Da ruft sein Großvater: ,Sehr gut, Max!‘ “

Wenn er nicht in seiner Druckerei werkelte, war er auf einer SPD-Versammlung oder machte Straßenwahlkampf in seinem Kiez. Sein Parteibüchlein mit den Spendenmarken drin ließ er neu binden, als es langsam aus dem Leim ging. Mehr als 50 Jahre hielt es ihm die Treue, so etwas wirft man nicht weg.

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