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Regisseur Mathieu Denis (37) sieht einem der Terroristen in seinem Film „Corbo“ verblüffend ähnlich.

© Marlene Gelineau Payette

Berlinale 14plus: Terroristen verstehen

Der Regisseur Mathieu Denis (37) sieht aus wie einer der Terroristen in seinem Film „Corbo“. Ein Gespräch über Radikalität und den betäubenden Wohlstand.

Der kanadische Film "Corbo" zeigt ein klassisches linkes Revoluzzer-Szenario. Québec, sechziger Jahre, Typen mit Hornbrille und Anzug sitzen im verqualmten Hinterzimmer und philosophieren über die Ausbeutung der Arbeiter und den Sozialismus. Ihre Zuhörer sind jung und wissen nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollen. Der Schüler Jean Corbo (Anthony Therrien) ist genau im richtigen Alter, um sich von den Rattenfängern bequatschen zu lassen. Er stößt zu der Gruppe, weil sein Vater konservativer Politiker ist und weil Julie (Karelle Tremblay) zur Widerstandsbewegung gehört. Die mit dem roten Kleid. Zuerst pinseln sie Parolen an Wände und verteilen Flugblätter, dann bauen sie Bomben. Am Ende knallt es. Der kanadische Regisseur Mathieu Denis stellt seinen ersten Langfilm auf der Berlinale vor.

Die separatistische FLQ (Front de libération du Québec) war in den Sechzigern aktiv. Da waren Sie noch nicht mal geboren. Warum der alte Stoff?

Mein Vater hat mir davon erzählt. Zur Zeit der FLQ-Bewegung war er im selben Alter wie Jean, der Protagonist. Er erzählte von 16-Jährigen, die damals bei der Terrorgruppe mitmachten. Ich habe versucht, mich in den fiktiven Jean zu versetzen. Das war sehr schwierig, denn ich hatte ganz andere Interessen in seinem Alter, nichts Radikales. Ich wollte mit dem Film verstehen, warum so ein sympathischer Junge zu einem Terroristen wird.

Und, verstanden?

Zunächst zur damaligen Zeit. 1966 gab es weltweit in ehemaligen Kolonien gewalttätige Freiheitsbewegungen. Das hat auch die Leute in Québec inspiriert. Die Revolution in Cuba, Vietnam, Algerien. Dann kommt die persönliche Ebene dazu. Jean sucht nach seiner Identität. Seine Großeltern waren italienische Einwanderer, seine Mutter kommt aus Québec. Er ist also weder Québecois noch Italiener. Er sucht nach seiner eigenen Stimme.

Aber er ist doch so ein braver Junge. Warum bastelt er plötzlich Bomben?

Er will die Welt verändern, in der er gelebt hat. Das lag aber auch an der Zeit. Meine Generation ist politisch wenig interessiert, der Glaube, die Welt zu verändern, existiert nicht.

Man denkt, das haben doch schon Leute ausprobiert – und es hat nicht geklappt (lacht). Damals sind sie einfach rausgegangen und haben verrückte Sachen gemacht. Den Glauben daran haben wir leider verloren. Das ist schade. Den müssen wir wieder finden.

Aber solange ich meine Coca-Cola trinken kann, ist doch alles fein?

Wir leben in einer Zeit extremer Individualität. Das einzige, was für die Leute zählt, ist der individuelle Komfort. Da ist kein Gedanke an das große Ganze. Natürlich muss es Leuten individuell gut gehen, aber das betäubt uns irgendwann. Je besser es einem geht, desto weniger interessiert einen der Rest.

Wie beim Baader-Meinhof-Komplex von Bernd Eichinger fiebert man mit den linken Rebellen mit. Es wirkt so, als seien sie die Guten und der Staat das Böse. War das Ihre Absicht?

Niemand wird im Film als gut oder schlecht dargestellt. Man kann Bewegungen nicht in Schubladen stecken und sagen: Hier ist das Böse und dort das Schlechte. Es geht doch viel mehr darum, warum manche Leute so handeln, politisch aktiv sind und auf der anderen Seite an sich zweifeln.

Der Selbstzweifel von Jean spielt eine große Rolle im Film…

…aber den löschen die älteren Anführer der Gruppe aus. Sie haben mehr Lebenserfahrung, sodass sich die Jugendlichen an ihnen orientieren. Da ist zum Beispiel Mathieu…

…der sieht Ihnen sehr ähnlich!

(lacht) Das ist Zufall. Teile seines Charakters sind sehr beunruhigend.

Man stiftet doch nicht 16-Jährige dazu an, Bomben zu bauen. Auf der anderen Seite zeigt er inspirierende Züge, sein Einsatz, die Hingabe. Die Welt verändern wollen, sie verbessern wollen, das ist  inspirierend.

Bei einigen jungen radikalen Islamisten wird gesagt, sie hätten genau so gut links – oder rechtsextrem werden können, je nachdem, welche Ideologen schneller sind. Wie ist das bei Jean?

Anders. Er ist 16. Trotzig, probiert sich aus. Er denkt nicht darüber nach, sich bei einer der Aktionen verletzen zu können oder gar zu sterben. Er will sich vor der Gruppe beweisen, den älteren Anführern gefallen. Auf der anderen Seite stand Jean wirklich politisch dahinter. Der Großvater wurde während des zweiten Weltkrieges von den Kanadiern gefangen genommen. Seine Reaktion: Ich lebe in Kanada, aber ich bleibe Italiener. Jeans Vater war auch in Kriegsgefangenschaft, aber er beschloss, ein respektabler Bürger zu werden. Jean ist dort geboren und will in dieser Gemeinschaft aktiv sein, Missstände wie die Armut in Québec bekämpfen. Deshalb glaube ich, dass Jean nicht einfach ein verrückter Teenager ist, der aufbegehrt.

Und nun?

Im Sommer werde ich den nächsten Film drehen. Das Thema lässt mich nicht los. 2012 kämpften die Studenten in Montréal gegen die Erhöhung der Studiengebühren. Sie wollten Sachen verändern, und dann brach die Bewegung plötzlich zusammen. Der Film handelt von vier Studenten, die sich drei Jahre später wieder treffen und ernüchtert feststellen, dass sich nichts verändert hat. Dann radikalisieren sie sich.

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Simon Grothe, 19

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