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In Einigkeit für die Unabhängigkeit Schottlands: Gurpreet Bilon und David McGraw „Schottland ist im Vereinigten Königreich sozial benachteiligt“, sagt Gurpreet Gilon. „Das ist eine einmalige Chance“.

© Anna Dombrowsky

Nachgefragt in Glasgow: Yes or No: Was wollen eigentlich die Studenten?

Die Schotten stimmen heute über die Unabhängigkeit ab. Eine Autorin unseres neuen Jugendmagazins hat sich im Vorfeld auf den Straßen Glasgows umgesehen und ist überrascht: Die Aktivisten der Yes-Bewegung tragen keine Schottenröcke, sondern Jeans und Hemden.

Glasgow. Noch drei Tage, dann ist es soweit. Die Schotten sind angespannt. Seit 300 Jahren tragen sie diesen Konflikt aus, nun können sie endlich über die eine Frage abstimmen, um die sich alles dreht, weil sie so viel verändern würde: Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?

„Definitv ja“, findet David McGraw. Der 24-Jährige und sein Freund Gurpreet Bilon haben an einer Lesung des Politikwissenschaftlers John Curtice teilgenommen, um sich ein neutrales Bild der aktuellen Umfragen in Schottland zu machen. „Es ist schwierig, eine unvoreingenommene Meinung in den Medien zu finden“, sagen sie.

Die beiden jungen Männer sehen nicht aus wie der Stereotyp des wilden, autonomen Urschotten, selbst Yes-Anstecker sucht man bei ihnen vergebens. Sie tragen keine Schottenröcke, sondern Jeans und Hemden mit ordentlich aufgestellten Kragen. Ihr Akzent verrät ihre Herkunft – sie sind in Glasgow geboren und aufgewachsen. „Ich werde dafür stimmen, dass die Schotten in Zukunft über ihre Regierung entscheiden können“, sagt David. Er wünscht sich die Veränderung unbedingt. Gurpreet pflichtet ihm bei: „Schottland hat fünf Millionen Einwohner, England 60 Millionen. Die Zahlen ergeben einfach keinen Sinn. Wenn wir hier in Schottland über etwas abstimmen, bekommen wir es in Westminster nicht umgesetzt.“

Sie sind der britischen Politik überdrüssig – zu lange hat der große Bruder England den Schotten nicht zugehört. Nun wollen sie zeigen, dass sie es auch ohne ihn schaffen können. Selbstbestimmung! Die Schotten haben seit 1707 kein eigenständiges Parlament mehr, sondern entsenden Abgeordnete ins britische Parlament nach Westminster in London.

Es wird ein knappes Rennen um die Unabhängigkeit

Als in den siebziger Jahren große Öl- und Gasvorkommen in Schottland entdeckt wurden, bekam die Autonomiebewegung Aufschwung. 1979 fand das erste Referendum statt, in dem die Schotten über die Einführung eines eigenen Regionalparlaments im Vereinigten Königreich abstimmten. Zwar war eine knappe Mehrheit dafür, wegen zu geringer Wahlbeteiligung wurde das Vorhaben aber nicht umgesetzt.

1997 gab es eine zweite Volksabstimmung zum Aufbau eines schottischen Nationalparlaments und Befugnissen zur Steuererhebung. In deutlichen Zahlen waren die Schotten dafür, sodass 1999 das erste schottische Parlament in Edinburgh einziehen konnte. Am 18. September steht das dritte Referendum an. Schottland hat die Möglichkeit, sich in die Unabhängigkeit zu wählen.

Das befürwortet die Scottish National Party (SNP) unter dem schottischen Ministerpräsidenten Alex Salmond. „Scotland’s Future in Scotland’s hands“ lautet der Slogan der YES-Fraktion. Die Gegenposition nimmt Alistair Darling von der Labour Party ein. Er wirbt mit der „Better Together“-Kampagne dafür, dass Schottland im Vereinigten Königreich bleibt. Es ist ein knappes Rennen. 51 Prozent wären ausreichend für eine Entscheidung.

Katie Rice, Studentin an der University of Glasgow, hofft, dass Schottland Teil Großbritanniens bleibt. „Alle Länder sind in der Vereinigung stärker als alleine. Wenn wir uns aufspalten, leiden beide Seiten unter den wirtschaftlichen Folgen.“ Für sie ist Schottland allein kulturell und historisch bedingt ein Teil Großbritanniens. Sie glaubt nicht, dass es im Fall der Unabhängigkeit finanziell bestehen könnte, dafür sei die Wirtschaft viel zu instabil. „Natürlich haben wir das Öl. Aber es wird darüber gestritten, wer es bekommt.“

Unabhängigkeit? Es gibt so viele ungeklärte Fragen.

Katie Rice (20) studiert in Glasgow und meint: "Schottland gehört kulturell und historisch zu Großbritannien".
Katie Rice (20) studiert in Glasgow und meint: "Schottland gehört kulturell und historisch zu Großbritannien".

© Anna Dombrowsky

Die 20-Jährige sieht zu viele Unsicherheiten in einem eigenständigen Schottland. Ob Wirtschaft, Regierungs- oder Bankensystem, Öl, Handel, Industrie oder Währung – es gibt so viele ungeklärte Fragen. Schottland, sagt Katie, sei bereits jetzt ziemlich selbstständig im Vereinigten Königreich: „In einer schottischen Stadt sieht man überall die schottische Flagge wehen. An jeder Ecke gibt es schottische Spezialitäten, schottische Tradition, schottische Kultur. Ich finde nicht, dass die Schotten von England kontrolliert werden. Es stimmt zwar, dass das Parlament in Westminster die Hauptentscheidungen trifft. Schottland kann aber sehr viel alleine beschließen.“ Warum reicht es nicht, wenn Schottland von Westminster aus das Recht bekommt, über Einkommenssteuer, Gesundheitssystem oder Bildung in Schottland zu entscheiden?, fragt sich Katie.

Für David und Gurpreet ist die Unabhängigkeit der entscheidende Schritt. Die britische Regierung spricht in diesen Tagen viel von Devolution, der Übertragung politischer Rechte und Befugnisse an gewählte Vertretungen der einzelnen Landesteile. Das Kabinett unter Premierminister David Cameron verspricht den Schotten mehr regionale Rechte, sollten sie im Vereinigten Königreich bleiben. Doch das reicht vielen nicht aus: „Man kann uns nicht einmal sagen, welche Rechte uns übertragen würden. Die sind sich in London überhaupt nicht einig, was sie uns geben wollen!“, sagen David und Gurpreet.

Barroso: Die EU-Mitgliedschaft eines unabhängigen Schottlands würde extrem schwierig werden

Die beiden jungen Männer glauben fest daran, dass all die bestehenden Unsicherheiten innerhalb von zwanzig bis dreißig Jahren gelöst werden würden. Fürs Erste würden sie das britische Pfund gern behalten. Wenn sich die Lage in Schottland stabilisiert hat, sagen sie, würden sie eine eigene Währung einführen. Es ist allerdings fraglich, ob Großbritannien freiwillig sein Geld mit einem fremden Land teilen wird.

David und Gurpreet wollen unbedingt, dass Schottland Mitglied der EU bleibt. Das Land gilt als EU-offener als der Rest des Vereinigten Königreichs. Das zeigt sich schon an der Wahlberechtigung für das Referendum: Nicht nur die in Schottland lebenden Briten über 16 Jahren dürfen abstimmen, sondern auch alle EU-Bürger mit ständigem Wohnsitz in Schottland. Während die SNP beteuert, Schottland wäre im Falle der Unabhängigkeit automatisch in der EU, sagte José Manuel Barroso, Vorsitzender der Europäischen Kommission, bereits mehrmals, dass ein Beitritt des neuen Landes extrem schwierig werden würde. Es ist eine weitere Ungewissheit, die erst im Falle der Selbstständigkeit nach dem 18. September geklärt werden kann.

Der Kampf um die Wählerstimmen bleibt spannend. Laut Umfragen ist vor allem die Jugend für eine Abspaltung, ältere Menschen fürchten ein großes finanzielles Risiko. Auf den Straßen Glasgows wird wild demonstriert. An vielen Fenstern hängen Yes-Poster, viele Glaswegians tragen ihre Anstecker mit Stolz. Die Unabhängigkeitsbewegung ist sehr präsent. Schnell entsteht der Eindruck, ganz Schottland sei für die Abspaltung.

Die Umfragen sagen etwas anderes. Es geht um die Zukunft des Landes. „Bleibt hier“, sagt Katie, „wir haben nichts gegen euch.“ David und Gurpreet sind der Meinung, dass Schottland am besten von Schottland aus regiert wird, gerechter und weniger selektiv. Nach 300 Jahren in der Union wollen sie, dass die Schotten alleine die Verantwortung für ihr Land übernehmen. Jetzt haben sie die Chance.

Das ist ein Beitrag unseres neuen Jugendmagazins "Der Schreiberling". Lust auf mehr? Folgt uns doch auf Facebook unter www.facebook.de/Schreiberlingberlin

Anna Dombrowsky

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