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Es ist an der Zeit, den grauen Herren die Zigarren zu entreißen, sagt unsere Autorin.

© Studio 100 Media

Vor uns das Leben: Ist es Zeitverschwendung, über Zeitverschwendung nachzudenken?

In Berlin beginnen die Abi-Prüfungen, und beim Maerzmusik-Festival diskutieren alle über Zeit. Die Zukunft. Und überhaupt. Wir fragen uns: Wo bleiben wir dabei? Vier Gedanken aus unserer Jugendredaktion.

Hydra ohne Zigarre

Mist, Bahn verpasst. Zehn Minuten verloren. Hätte der Kassierer im Supermarkt sich nicht beeilen können? Und die nächste Bahn kommt auch noch später! Wut über die vertane Zeit hängt in einer dichten Wolke über den Wartenden auf dem Bahnsteig, sie knistert vor Empörung darüber, dass das reibungslose Funktionieren der eigenen Person ins Stocken gebracht wird. Wir haben es schließlich total eilig. Ich muss gleich beim Maerzmusik Auftakt „Thinking together“ sein, es geht um Zeitfragen. Angekommen, aber immernoch außer Atem, erreichen mich Worte, Klänge, Bilder. Zeit als Erfahrungsdimension, als Kategorie des Politischen, als Instrument der Macht. Ich beginne, über meine eigene Zeit nachzudenken. Termine und Erledigungen, die an mir nagen und sich in meinem Nacken festbeißen. Mein Terminkalender ist wie eine Hydra, kaum ist eine Aufgabe erledigt, springen mir zwei neue entgegen. Und immer fehlt mir Zeit. Aber wo bleibt unsere ganze Zeit eigentlich? Gefressen von inkompetentem Management der Deutschen Bahn und tempodrosselndem Verkaufspersonal in den Supermärkten? Wohl kaum. Obwohl ich meine Zeit penibel berechne und zerstückle, werde ich nie fertig, ist nie alles erledigt. Sie scheint zwischen meinen Fingern wie Quecksilber zu zerperlen, wenn ich sie zu fassen versuche. Es kommt mir so vor, als würden irgendwo Michael Endes graue Herren sitzen, die sich aus unserer Zeit gedrehte Zigarren zwischen die gehässig grinsenden Lippen schieben.

Sie lösen in mir ein Gefühl der Fremdbestimmung aus, weil nicht ich die Zeit zu lenken scheine und ich mich am Ende des Tages immer ein bisschen schuldig fühle und die Hydra noch so unglaublich viele Köpfe hat. Mir wird suggeriert, ich habe alle Freiheiten und Möglichkeiten, aber ich stehe unter dem Druck, die richtigen Möglichkeiten wahrzunehmen und möglichst alles, so schnell wie möglich, möglich zu machen. Schaffe ich das nicht, ist eben schon jemand anders da. Der Schnelle frisst den Langsamen. Wer schneller in die Bahn drängt, bekommt den Sitzplatz, wer sich schneller Kompetenzen aneignet, kommt weiter, wer schneller den Ellenbogen ausfährt, schafft es nach oben. Oben?
Zeit ist ein allgegenwärtiges Instrument des Wettbewerbs, denn wer schneller ist, gewinnt die Wettbewerbsschlacht. Dieses Prinzip scheint mich so zu beherrschen, dass ich in jedem Lebensbereich nach der Wettbewerbslogik agiere, bei Fragen wie: Welcher Hydrakopf zuerst? Welche Kompetenzen optimieren mich? Welche Freunde? Welcher Lebensweg? Das, was ich mache, muss sich lohnen, sonst ist das Zeitverschwendung.
Sind wir freie Wesen? Können wir Zeit nach unseren Ideen verwenden und ein Leben nach unseren Fähigkeiten, Bedürfnissen und Hoffnungen leben? Vielleicht ist es an der Zeit, sich auf den Weg zu den grauen Herren zu machen und ihnen ihre Zigarren zu entreißen, um zu einem Leben zu finden, das uns entspricht. Und vielleicht macht uns das mit der Zeit glücklich. Henriette Teske, 18 Jahre

Alle sagen: „Du planst jetzt dein Leben, du hast alle Möglichkeiten, du musst jetzt glücklich sein. Das ist deine Zeit.“
Alle sagen: „Du planst jetzt dein Leben, du hast alle Möglichkeiten, du musst jetzt glücklich sein. Das ist deine Zeit.“

© dpa

Die Zeit in Worte fassen

Zeit wird groß geschrieben, weil es ein Substantiv ist. Das habe ich in der Grundschule gelernt. Alles, was ich sehen und anfassen kann, ist ein Substantiv. Das Auto, der Baum, die Sonnenblume. Nur begreift jedes Kind schnell, dass diese Definition unzureichend ist. Die Luft kann ich auch nicht sehen oder anfassen. Aber ich kann sie atmen und ich weiß, wann sie stickig oder frisch ist. Und die Zeit? Wir brauchen Zeit, um wichtige Dinge zu erledigen. Selten haben wir genug. Wir verlieren sie, wenn wir uns an Unwichtigkeiten aufhalten. Uns fehlt die Zeit, wenn wir einen unerwarteten Anruf bekommen. Es kostet Zeit, die Zeitung zu lesen. Aber wir brauchen diese Zeit für uns. Wenn wir morgens einen Bus früher schaffen, haben wir Zeit gespart. Damit überall auf der Welt die gleiche Zeit läuft, muss sie verschoben und in Zonen einsortiert werden. Wenn wir dann in ein Flugzeug steigen und einmal um die halbe Welt fliegen, ist das quasi eine Zeitreise in einer Zeitmaschine, von der wir als Kind manchmal träumen.

Wir personifizieren die Zeit und machen sie zu einem Objekt, um etwas zu begreifen, das wir nicht greifen können. Wir suchen nach einem Rhythmus, der unser Leben bestimmt und geben uns mit physikalischen Einheiten zufrieden. Aber was sagt das über die Zeit aus, außer, dass wir uns nach diesem Takt richten müssen und unsere Zeit dadurch um einiges hektischer geworden ist als früher? Wir handeln mit Zeit, tun so, als würden wir sie verdienen, abarbeiten, verschenken. Tatsächlich ist der Begriff ein sehr geheimnisvoller, über den wir viel zu selten nachdenken. Am liebsten würde ich den Zeitgeist treffen, damit er es mir verraten kann. Tabea Gesche, 18 Jahre

Tapetenwechsel

Raum ist ein großes Wort, es kann vom Klassenraum zum Wohnzimmer reichen, von dem Raum Deutschland bis zum Weltraum. Ausgemacht durch die Gegenstände, Situationen, Menschen, die wir mit diesem Raum assoziieren. Und dann gibt es die Zeit, die manchmal, wie im Klassenraum, so endlos erscheint und nur quälend fortschreitet. Am Strand hingegen, in der wärmenden Sonne, verstreicht sie wie im Flug. Objektiv entspricht eine Stunde immer 60 Minuten. 60 Minuten bleiben immer 3600 Sekunden. Aber unser Zeitempfinden, das Gefühl, ob wir zehn oder zwanzig Minuten erlebt haben, ändert sich. Mag es durch die Bedingungen sein, durch die Menschen, denen wir begegnen oder die Situationen, die Resultate, die wir mitnehmen. So warten die meisten unserer Generation in der Schule oder im Hörsaal mit dem Druck, alle Aufgaben am Tage selbst noch zu erledigen, auf die erlösende Pausenklingel. In den Ferien und mit dem Wunsch, dass die Zeit nicht vergehen möge, scheint alles besonders schnell vorbei zu sein und schwupps, findet man sich im Klassenzimmer wieder. Eigentlich wäre es andersherum ja schöner, dann wären die Ferien, die freie Zeit gefühlt endlos. Aber dann würde sich etwas Wesentliches ändernade, weil wir nicht auf das Ende warten und jede Sekunde in vollen Zügen genießen, verlieren wir das Gefühl für Zeit. Und ist es nicht das, was wir wollen, wenn wir den Raum wechseln? Vom Klassenzimmer in den Raum Italien, einen Tapetenwechsel, mit dem unser Zeitgefühl verändert wird? Zumindest in der Entspannungszeit nach Klausuren ist das sicherlich ratsam, aber ich denke, wir brauchen beides, sonst hätten wir ja das Gefühl, unser Leben verstreiche in wenigen Sekunden.

Manchmal reicht auch ein kleiner Raumwechsel direkt vor der Haustür. Liquid Room, der verflüssigte Raum, ein neues Konzertformat im Rahmen der Maerzmusik, lädt dazu ein. Hier ist es möglich, das Zeitgefühl zu verlieren, denn auch in diesem Raum sind wir, wie in den Ferien, frei. Zuhörer können sich in diesem Konzer frei zwischen mehreren Bühnen bewegen, raus und rein gehen, sitzen und stehen bleiben. Hier entsteht kein Zeitdruck, keine Anforderungen werden gestellt, keine Abläufe berücksichtigt. Genau das, wonach wir uns in den Ferien so sehr sehnen und was uns die Zeit vergessen lässt. Finja Berresheim, 20 Jahre

Zeit in der Musik

Aufstehen um sechs Uhr morgens, Frühstück um 6.30 Uhr, Arbeiten bis sechs Uhr am Abend, Abendbrot um acht Uhr und dann schlafen um neun Uhr. Uhr, Uhr, Uhr! Die Musik aber löst sich davon ab, denn in ihr gibt es keine Uhr, sondern nur die Zeit. „Ey man, keep time!“ ist ein Satz, den Musiker oft zueinander sagen, zum Beispiel im Jazz. In vielen Musikrichtungen ist Zeit als Tempo von großer Bedeutung, charaktergebend für das Stück. Es ist wichtig, dass das Tempo gleich bleibt.

Auf der anderen Seite gibt es Stücke, die gerade davon leben, im Tempo zu variieren oder gar auf Zeit als Metrum zu verzichten, wie in der Neuen Musik zum Beispiel. Aber in allen Fällen ist die Zeit ein wichtiger Aspekt und beeinflusst die Atmosphäre der Musik ungemein. Ein Stück kann schnell sein und zum Tanzen anregen, es kann getragen sein oder wellenförmige Dynamiken erzeugen.
Die Zeit spielt auch insofern eine wichtige Rolle, als ohne Taktangaben das Zusammenspiel nur schwer möglich wäre. Wenn sie fehlt, versucht man, einen Puls zu finden, irgendetwas, das Anhaltspunkte bringt, um Muster und Kreise in der Musik zu erkennen und zu verstehen und sich als Zuhörer zurechtzufinden.
Die Zeit der Musik ist nicht die gleiche, die unseren Tagesablauf vorzugeben scheint. Hier gibt es keine Minuten, Sekunden oder gar Stunden, wie sie in unserer Alltagswelt existieren, sie ist von Stück zu Stück anders. Es können neue Zeiteinheiten entstehen, denn die Minute mit 60 Sekunden gilt nicht mehr.
Zeit hilft uns, eine gewisse Struktur im Leben zu haben, die wir benötigen – oder vielleicht auch nicht? Jakob von Bülow, 16 Jahre

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