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Wir sind mit Christian Bürger (58) nach Prag gefahren und haben mit ihm die deutsche Botschaft besucht, die er im Sommer 1989 mit tausenden weiteren DDR-Flüchtlingen besetzt hatte.

© Emilie Schmidt

Zeitzeuge zur friedlichen Revolution: "Wir haben uns mit den Füßen gewehrt"

Reisefreiheit? Meinungsfreiheit? Selbstverständlich! Oder nicht? Christian Bürger flüchtete im Sommer 1989 aus der DDR in die Botschaft der BRD in Prag und war Sprecher von mehreren tausend Flüchtlingen. 25 Jahre später haben wir uns dort mit ihm getroffen.

Heute amüsiert sich Christian Bürger über die Stasi-Akten, die seine Ausreise in die BRD dokumentieren. In einem Café am Prager Hauptbahnhof lacht der 58-Jährige, mit schmaler Brille, kurzem Bart und stoppeliger Halbglatze, während er die Dokumente zur sogenannten „Aktion Zug“ durchblättert. Im Hintergrund läuft Californication von den Red Hot Chili Peppers, Anthony Kiedis singt „Space may be the final frontier“ - Der Weltraum mag die letzte Grenze sein.

Bürgers letzte Grenze lag dann doch deutlich näher. Jedenfalls dachte er das. In Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt, aufgewachsen, stellte er Mitte der 80er Jahre seinen ersten Ausreiseantrag. Abgelehnt. Nach einer fünfjährigen Odyssee aus Fluchtversuch, Schikane durch die Stasi, Zuchthaus und erneuter Flucht durfte er schließlich doch ausreisen. "Wenn wir gewusst hätten, dass die Mauer fällt, hätten wir uns diesen Stress nicht machen müssen", sagt er. Mit dem Zug fuhr er im Herbst 1989 von Prag über Dresden in die BRD. 25 Jahre später fahren wir mit ihm dieselbe Strecke nach. Organisiert haben das der Zeitbild-Verlag und die Bundesstiftung Aufarbeitung. Im folgenden Video erzählt Bürger, warum er aus der DDR ausreisen wollte und wie ihn sein erster Fluchtversuch ins Gefängnis brachte.

Im Garten hinter der Botschaft zelteten mehrere tausend Flüchtlinge. Links im Bild, das Denkmal "Quo Vadis?" - Wohin gehst du? Auf dem Balkon im Hintergrund verkündete Hans-Dietrich Genscher die Ausreise der Flüchtlinge.
Im Garten hinter der Botschaft zelteten mehrere tausend Flüchtlinge. Links im Bild, das Denkmal "Quo Vadis?" - Wohin gehst du? Auf dem Balkon im Hintergrund verkündete Hans-Dietrich Genscher die Ausreise der Flüchtlinge.

© Emilie Schmidt

Christian Bürger kam ins Stasi-Untersuchungsgefängnis in Karl-Marx-Stadt, später ins Zuchthaus Cottbus, Isolationshaft. Spärlich fiel etwas Tageslicht durch die winzigen Fenster aus Milchglas. Die Zeit zwischen den Verhören - eine Qual. Die Verhöre - eine Qual. Bürger erzählt im Zug von den Methoden der Stasi, er möchte die ganze Geschichte erzählen. Seine einzige Hoffnung im Knast war, von der BRD freigekauft zu werden. Knapp 34 000 Flüchtlinge konnten auf diesem Weg in die BRD ausreisen. Leider erließ die DDR im Gegenzug für einen Kredit aus der BRD eine Amnestie für politische Gefangene. Christian Bürger war nun frei, so frei wie man als Staatsfeind, als Republikflüchtling in der DDR sein konnte. Er wusste, dass es observiert wurde, doch dann schaltete er eines Abends das Radio ein.

Wir betreten die Prager Botschaft durch die Vordertür. Begleitet werden wir von Schülern der Deutschen Schule Prag. Der Zaun wurde nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 erhöht, so dass wir uns sportlich nicht in der Lage sehen, darüber zu klettern wie damals die Flüchtlinge. Ein kühler Wind weht durch den Garten der Botschaft, der Rasen ist in englischer Manier bestens frisiert. Kaum zu glauben, dass auf dieser Fläche mal über 4000 Flüchtlinge gewohnt haben. Als Christian Bürger vor 25 Jahren in die Botschaft flüchtete, war er nicht der Erste, 40 DDR-Bürger hatten sich bereits im Nebenhaus der Botschaft einquartiert.

Die Stimmung war entspannt. Botschafter Joachim Huber veranstaltete einen Grillabend und fuhr mit seiner Frau zum Urlaub in die Schweiz, erinnert sich Bürger. „Niemand hatte gedacht, dass die Zahl der Flüchtlinge in den folgenden Wochen so rapide steigen würde.“ Botschaftsbesetzungen gab es ja schon öfters, nur wurden sie - dafür sorgte auch die DDR-Führung - kaum beachtet. Doch es kamen immer mehr. Reihenweise Trabis sammelten sich vor dem Tor der Botschaft, ihre Autoschlüssel hängten die Flüchtlinge an einen Baum auf dem Botschaftsgelände - skurrile Bilder.

Mittlerweile sitzen wir mit den Schülern aus Prag in der Botschaft und schauen einen Film aus der Zeit der Besetzung 1989. In den Augustwochen, als mehrere hundert Flüchtlinge hinzukamen, wuchs auch das mediale Interesse. In einem Fernsehbeitrag sieht man ein Auto an den hinteren Zaun der Botschaft fahren. Hektisch springt eine Familie aus dem Auto, schmeißt prall gefüllte Plastiktüten über den Zaun und klettert hinterher. In der Eile werfen sie ihr kleines Kind fast mit über den Zaun. Brenzlig, denn einige Flüchtlinge wurden von der Polizei der ČSSR vom Zaum gerissen und an die Stasi ausgeliefert. Das schockierende an den Aufnahmen: Sie sind in Farbe. Bis auf die schrägen Frisuren könnte die Szene auch heute spielen. Das macht einem bewusst, wie dicht diese Geschichte an der Gegenwart liegt.

Ende August ’89 glich der Garten einer Stadt. Joachim Huber verlangte einen Sprecher der Flüchtlinge - Christian Bürger. Er bekam ein eigenes Büro, in dem er Neuankömmlinge registrierte und die Essensversorgung koordinierte, den Kamerateams gab er durch den Zaun Interviews. Als er sich selbst sieht, rutscht ihm ein „Oh Mann, sah ich scheiße aus“ raus, und er lacht. Zum Glück fragten die meisten Reporter auf Deutsch, erzählt er. „Wir Ossis konnten keine Fremdsprachen - und russische Journalisten waren ja nicht da“. Die Besetzung der Botschaft wurde in den sozialistischen Bruderstaaten verschwiegen, Rundfunkbeiträge gab es nur im Westen.

Als wir die Prager Schüler fragen, was für sie Freiheit ist, fallen mehrfach die Floskeln „Meinungsfreiheit“ und „Reisefreiheit“. Ziemlich langweilig und verschult. Oder? An meiner ersten Redaktion merke ich, wie selbstverständlich das alles geworden ist. Auf der Fahrt nach Prag war es mir kaum vorstellbar, dass man hier früher nicht lang fahren durfte. Ich war schon überrascht, dass ich am Prager Hauptbahnhof Euros in tschechische Kronen wechseln musste.

Am 30. September 1989 war Hans-Dietrich Genscher zu Besuch in der Botschaft. Der damalige Außenminister der BRD stellte sich auf den Balkon, vor ihm Tausende erregte DDR-Flüchtlinge, die schreien: „Freiheit! Freiheit!" Genscher hebt den Blick und sagt: „Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise …“ Weiter kommt er nicht, die Menschenmassen brechen in Jubel aus.

Im Garten der Prager Botschaft steht ein Denkmal, ein Trabi mit Füßen. Es trägt den Titel „Quo Vadis?“, Wohin gehst du? „Die DDR-Bürger haben sich mit den Füßen gewehrt“, sagt Christian Bürger.

Die Züge mit den Flüchtlingen sollten über das Gebiet der DDR fahren. Die Bahnhöfe wurde dafür geräumt, Bürger wurde unsicher, als er auf dem Weg durch seine Heimat keine Menschen sah. „Gespenstisch“, sagt er.

Im Zug wurde Christian Bürger nach seinem Ausweis gefragt. DDR-Polizisten wollten noch ein letztes Mal die Pässe kontrollieren. Seit der Amnestie für politische Gefangene besaß er jedoch keinen mehr. Als er das dem Beamten erklärte, holte der einen Kollegen. Der Kollege erkannte ihn und sagte: „Ach, der schon wieder“. Er drehte sich um und ging.

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Simon Grothe

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