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Berlin: JVA Tegel: Die Auffangstation

Über dem Gelände hängt der Duft von frisch gebackenem Weißbrot. Zwischen denkmalgeschützen Backsteinbauten blühen Blumen, eine Efeu berankte Mauerwand spiegelt sich in einem kleinen Goldfischteich.

Über dem Gelände hängt der Duft von frisch gebackenem Weißbrot. Zwischen denkmalgeschützen Backsteinbauten blühen Blumen, eine Efeu berankte Mauerwand spiegelt sich in einem kleinen Goldfischteich. Auf dem Acker der Gärtnerei sitzen lachend Männer zusammen. Sie genießen ihre Mittagspause - auf dem Knasthof der Justizvollzugsanstalt Tegel. Der Hof endet an den roten Backsteinmauern, die Idylle auch. "Ich will hier raus!" Durch die Fenstergitter der Teilanstalt I schiebt sich ein Arm. Die Hand winkt einen zu sich herüber. Der Gefangene brüllt: "Hier müssen Sie herkommen, hier ist die Folterstation!" Dann herrscht trostlose Stille vor dem hundertjährigen Klinkerbau mit den rostigen Fenstergittern und der fleckigen, bröckelnden Fassade. Trostlos - trotz der Blumen und des Goldfischteichs.

Unter Eberhard Diepgen (CDU), Ex-Regierender Bürgermeister und Ex-Justizsenator, herrschte in Deutschlands größtem Knast Ruhe, zumindest nach außen hin. Das Interesse der Öffentlichkeit galt anderen Problemen als einem Gefängnis, in das man den Bodensatz der Gesellschaft wegsperrt. Am Strafvollzug konnte man ohne große Gegenwehr sparen. Die Häftlinge hatten keine Lobby. Die haben sie auch jetzt nicht, aber mit Wolfgang Wieland (Grüne) einen neuen Justizsenator, der Verständnis für sie äußert. Und plötzlich drang Unruhe nach draußen. Im August traten etwa 100 Gefangene aus drei von sechs Teilanstalten in einen Hungerstreik, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Und weil Wahlkampf herrscht in Berlin, hörte die Öffentlichkeit hin.

Die drei betroffenen Teilanstalten I bis III entstanden um die Wende zum 20. Jahrhundert, einer Zeit also, in der der Gedanke der Bestrafung noch Vorrang hatte vor dem der Resozialisierung. Wolfgang Wieland meint, im Falle des Tegeler Knastes helfe nur der Abriss. Und wahrscheinlich fühlt sich wirklich mancher Gefangene wie in einem Folterkeller, vor allem auf der Isolierstation für Drogendealer im Haus I. Mit denen versteht die Anstaltsleitung keinen Spaß, kämpft sie doch verzweifelt gegen den Drogenmissbrauch im Tegeler Knast. Immer mehr Häftlinge dröhnen sich zu, kommen entweder schon süchtig an oder werden in den Zellen dazu gemacht. Um das Vertriebsnetz zu zerreißen, hält man die Dealer eigens unter Verschluss. Eine eigene Station, in die kein anderer Häftling hinein darf, ein Stacheldraht umzäunter Hof für die Freistunde, ein separater Zugang - niemand soll in ihre Nähe kommen.

Klopapier ist knapp

Nicht nur Dealer lernen, die Teilanstalt I zu hassen. Jeder, der nach Tegel verlegt wird, muss da erst mal durch. Hier wird nach teilweise monatelanger "Eingewöhnungszeit" entschieden, wer auf welche der sechs Tegeler Teilanstalten verlegt wird. Immer wieder klagen Gefangene über die schlechten Bedingungen im "Aufnahmelager". Es gebe fast keine Reinigungsmittel, einmal im Monat eine Rolle Klopapier.

Ständig gibt es Reibereien zwischen den Häftlingen. Manche von ihnen sind wegen Mordes verurteilt, andere wegen ausstehender Unterhaltszahlungen. "Das ist keine Durchgangsstation, sondern ein Abstellgleis", flucht einer.

Es ist Mittagszeit. Ab halb zwölf karren Kleintransporter das Essen von der Anstaltsküche in die einzelnen Häuser. In den verbeulten Metallkesseln mit den undichten Deckeln ist das Essen schnell kalt. "Die Gefangenen gehen nicht gerade pfleglich mit den Behältern um", entschuldigt sich Anstaltschef Klaus Lange-Lehngut für die Blechnäpfe. Der Küchenkalfaktor, ein Gefangener, der das Privileg hat, das Essen zu transportieren und sich deshalb frei in der Anstalt bewegen kann, nickt zustimmend. Auf die Idee, die Behälter in Warmhaltekisten zu transportieren, wie sie jeder Pizzaservice benutzt, ist noch keiner gekommen.

Auf den hell getünchten Gängen von Haus II wird es lebendig. Es ist Essenausgabe. Schlüssel und Schüsseln klappern, Holztüren schlagen zu, Schritte poltern über die Metallstufen der Treppen. Vier Etagen Flur auf einen Blick, dazwischen Stahlnetze. Die Gestalten der Gefangenen, die aus den Zellen kommen, entsprechen dem Klischee: lange ungepflegte Haare oder rasierte Glatze, nachlässige, oft zerschlissene Kleidung, großflächige Tätowierungen. Verschlossene Gesichter, träge Bewegungen. Viele schlurfen über den abgetretenen Bodenbelag. In der Teilanstalt II hängen die meisten Drogenabhängigen fest. Hier war auch das Zentrum des Hungerstreiks, von dem Lange-Lehngut meint, er sei "von den Medien aufgeblasen" worden. Er habe schon ganz andere Aktionen erlebt, da sei ihm wirklich Angst und Bange gewesen. Aber der Streik, "das war doch keine Meuterei."

Ein Tropfen hatte das Fass zum Überlaufen gebracht: fehlendes Wasser. Um Kosten zu sparen, führte die Anstaltsleitung im Mai ein strenges Duschreglement in Haus II ein. Jedem Häftling standen genau drei Minuten Duschzeit zu, die der Badekalfaktor sekundengenau überwachte. "Gas, Strom, Wasser - das kostet alles Geld. Hier geht es doch nicht ums Wohlfühlen, sondern einfach nur um Hygiene", sagt der Anstaltschef. Sein Gefängnis hat inzwischen vier Millionen Mark Schulden. Da zählt jeder gesparte Zentiliter warmes Wasser. Nun sind die drei Minuten bloß noch ein Richtwert. "Wer lange Haare zu waschen hat, darf länger." Ein klitzekleiner Erfolg der Protestaktion, die inzwischen "ausgesetzt" wurde.

12 Uhr mittags. Das Essen ist vorbei. Ein Sirenenton beendet das Klappern der Geschirre und das Stimmengewirr. Schlagende Türen, rasselnde Schlüssel. Stille. Zählappell. Die Gefangenen hocken in ihren verschlossenen Zellen, warten darauf, dass der Vollzugsbeamte sein Häkchen macht. Die letzte geglückte Flucht aus Tegel liegt fast zehn Jahre zurück. Irgendwo auf den Gängen zirpt ein Heimchen.

In Tegel sitzen Mörder, Totschläger, Sexualstraftäter, Betrüger - alle diejenigen, denen man zutraut, aus dem offenen Vollzug zu türmen. Der Anstaltsleiter spricht von der "Negativauslese der Gesellschaft", die im geschlossenen Vollzug einsitze. "Viele von denen haben eine jahrelange Verwahrlosungskarriere hinter sich."

Klaus Lange-Lehngut, der Leiter, ist zwischen den Gefängnismauern grau geworden. Seit 22 Jahren leitet der 59-Jährige mit kurzen Unterbrechungen die Haftanstalt, hat Häftlinge kommen und vor allem wiederkommen sehen. Die Rückfallquote liegt bei 50 bis 60 Prozent. Zu hoch, sagt er, und weiß nicht, wie er das ändern soll. Er läuft in seinem geräumigen Büro auf und ab. Er hat etwa sechsmal so viel Platz wie der Gefangene in der normalen Zelle gleich hinter seiner Bürowand. Wenn Lange-Lehngut über die Haftbedingungen spricht, hat er keinen Anlass zu lächeln. Da nützt auch der "Smiley" an seiner Bürowand nichts.

Tegel ist hoffnungslos überfüllt. Offiziell hat die JVA rund 1550 Haftplätze, derzeit sitzen 1700 Gefangene ein. "In der Theorie geht man von einer optimalen Belegung aus, die zehn Prozent unter der Maximallast liegt", sagt Lange-Lehngut. Das heißt, in Tegel sitzen 350 mehr Straffällige, als eigentlich zu verkraften wären.

Zwei Schritte vor und zurück

Die Welt der beiden Häftlinge in Haus II ist überschaubarer, als die von Lange-Lehngut. Sie teilen sich acht Quadratmeter Zelle. "Wir kennen uns schon von draußen", sagt der eine. "Deshalb wollten wir auch zusammengelegt werden." Dann guckt er wieder in den kleinen Fernseher auf dem Resopaltisch. Auf RTL läuft "Familienduell". Der Empfang ist schlecht. U-Boot-Athmosphäre. In den Zellen gibt es keine Intimität. Das Toilettenbecken gleich neben der Zellentür, rechts das Waschbecken. Die Doppelstockbetten kleben an der vergilbten Wand, Pin-up-Girls an den Spindtüren, zwei Schritte vor und zurück sind gerade noch möglich. Für einen, wenn der andere nicht da ist, arbeiten zum Beispiel.

Doch in Tegel fehlt es an Arbeitsplätzen. Zwar hat die Anstalt "so viele Handwerksbetriebe wie eine Kleinstadt" - Bäckerei, Gärtnerei, Buchbinderei, Tischlerei ... - trotzdem sind nur 1200 Gefangene beschäftigt, 500 sitzen rum, langweilen sich, werden aggressiv. Gründe, anderen den Schädel einzuschlagen, gibt es im Knast viele.

Telefone zum Beispiel. Abends entstehen lange Schlangen vor den paar Kartentelefonen in den Zellentrakten, von denen man - übrigens unüberwacht - nach draußen telefonieren kann. Wenn da einer mal länger als ein paar Minuten mit seiner Familie oder Freunden spricht, gibt es Zoff. Auch Schulden bringen jede Menge Ärger ein. Wer sich ein Päckchen Tabak borgt, weil sein Vorrat aufgebraucht ist, muss binnen zwei Wochen zurückzahlen, mit 100 Prozent Zinsen. Wer nicht zahlt, bekommt schnell handgreiflichen Ärger mit den Gläubigern. In heiklen Fällen verlegt die Anstaltsleitung den Bedrängten in die "Schuldenburg" im Haus II. Dort ist er abgeschirmt von seinen Gläubigern.

Ohne besonderen Schutz, ohne eine Waffe läuft Lange-Lehngut durch das Gedränge der schweren Jungs. "Hier darf man keine Angst haben", sagt der Anstaltsleiter, "sonst kann man den Job gleich an den Nagel hängen." Eine Delegation von südkoreanischen Vollzugsbeamten sei vor einigen Jahren panisch geworden, weil keiner der deutschen Kollegen eine Pistole bei sich trug.

Lange-Lehngut entspannt sich, als er Haus V betritt. Dabei sitzen hier die ganz schweren Jungs, die noch mindestens drei Jahre Reststrafe verbüßen müssen. Das Gebäude stammt aus den 80er Jahren, hat helle Flure und große Fenster, die alle in das Anstaltsinnere weisen - "damit die Gefangenen nicht den Nachbarn in die Pools starren", sagt Lange-Lehngut. Die Nachbarn sollen ungestört sein von neidischen Blicken.

Volker K. (Name geändert) starrt aus dem Fenster seiner Zelle. Er hat ein Allerweltsgesicht, dem man die kriminelle Karriere nicht ansieht. Der 43-Jährige sitzt wegen schweren Betruges hinter Gittern. Zwei Drittel seiner Strafe sind abgesessen. Er hat sich gut geführt, darf manchmal raus aus dem Knast. "Hier schließt man keine Freundschaften", sagt er. Auch nach Jahren nicht. Freundschaft braucht Vertrauen. "Aber hier kann man keinem trauen."

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