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Kältebus

© Kai-Uwe Heinrich

Kältebus: Eiskalte Abwege

1800 Jugendliche und junge Erwachsene sind obdachlos. Manche sind trotz Kontakt zu den Ämtern auf der Straße gelandet - weil die richtigen Hilfen fehlen.

Still und geduldig wartet der junge Punk. Wartet darauf, dass sich die schwere Eisentür endlich öffnet. Reden möchte er jetzt nicht, und deshalb bleibt die Frage nach seinem Namen unbeantwortet. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sitzt er auf dem Boden, starrt ins Leere und bläst den Rauch einer Zigarette in die kalte Winterluft. Neben ihm, das Gesicht zwischen den Armen versteckt, schläft zusammengekrümmt seine Freundin. Es ist 14 Uhr, und am Berliner Zoo warten die zwei Jugendlichen auf die Essensausgabe der Bahnhofsmission.

Die Frauen und Männer der kirchlichen Sozialeinrichtung stapeln derweil Brote, füllen Schalen mit Gebäck und kochen Tee. Tannenzweige stehen auf den Tischen und ein paar Kerzen. „Viermal am Tag geben wir Essen an Bedürftige aus, insgesamt bis zu 1000 Portionen täglich“, erzählt Annina Budnick, Sozialarbeiterin der Bahnhofsmission. Etwa jeder dritte Gast ist ein Jugendlicher, schätzt die junge Helferin. Die Berliner Landesregierung schätzt, dass es in der Hauptstadt allein rund 1800 Minderjährige gibt, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben.

Mit durchschnittlich 15 Jahren, manchmal aber auch schon ab dem elften Lebensjahr, haben die Jugendlichen ersten Kontakt zur Straßenszene. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Junge Menschen auf der Straße in den Berliner Innenstadtbezirken“ des Instituts für Sozialforschung, Informatik und Arbeit (ISIS). Im Sommer 2007 befragten die Autoren Mädchen und Jungen auf dem Berliner Alexanderplatz sowie vor den Bahnhöfen Ostkreuz, Warschauer Straße und Frankfurter Allee. Etwa ein Drittel der „Straßenkids“ ist tatsächlich wohnungslos. Weitere 20 Prozent leben in unsicheren Wohnverhältnissen, also entweder bei Freunden, Lebenspartnern oder in Wagenburgen. Erschreckend ist der Gesundheitszustand der Jugendlichen. Rund 80 Prozent sagten, dass sie zeitweise unter Hunger leiden. Hinzu kommen Probleme mit Alkohol und anderen Drogen sowie starke psychische Belastungen. „Viele haben sich leider mit ihrer Situation arrangiert“, berichtet Budnick resigniert.

Hilfe finden die Jugendlichen unter anderem im „Klik“, dem Kontaktladen für Jugendliche auf der Straße in Berlin-Mitte. „Bei uns können sie essen, Wäsche waschen, duschen, und wir versuchen die Jugendlichen auch in geeignete Wohnprojekte zu vermitteln“, so Ralf Köhnlein, einer der Sozialarbeiter. Das Problem für manche Jugendliche sei aber, so Köhnlein, dass die Aufnahme in Einrichtungen des betreuten Wohnens auch mit bestimmten Auflagen, wie regelmäßigem Schulbesuch oder etwa der Teilnahme an einer Drogenberatung, verbunden ist. „Aus diesem Grund landen Jugendliche auf der Straße, obwohl sie vorher Kontakt zum Jugendamt hatten“, erklärt er und betont, wie wichtig sogenannte niederschwellige Angebote seien. Noch bis vor wenigen Tagen drohte dem „Klik“ die Schließung. Private Spenden, unter anderem von den Lesern des Tagesspiegels, sichern die Fortsetzung der Arbeit zumindest in den kommenden zwölf Monaten. „Wir sind natürlich froh, wünschen uns aber eine langfristige Finanzierung“, so der Sozialarbeiter. Denn nicht nur für minderjährige Jugendliche, mehr noch für die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen, die auf der Straße leben, fehlen geeignete Hilfsprojekte. „Es ist falsch, wenn sinnvolle Maßnahmen, etwa betreutes Wohnen, mit der Volljährigkeit enden, denn auch danach sind viele Jugendliche mit ihrem Alltag überfordert“, sagt Anett Leach, ebenfalls Sozialarbeiterin im „Klik“.

Olli beispielsweise. Leise klopft der 25-Jährige an den kleinen Wohnanhänger der Obdachlosenzeitung „Strassenfeger“, der in einer Seitenstraße hinter dem Bahnhof Zoo steht. Drinnen sitzt Marcus Zywietz. Der Ofen in der Ecke sorgt für gemütliche Wärme, auf dem Tisch blubbert eine Kaffeemaschine, und im Hintergrund dudelt leise ein Radio. Der 37-jährige „Strassenfeger“-Mitarbeiter verteilt von hier aus zweimal pro Woche die Obdachlosenzeitschrift an die Straßenverkäufer. Alle paar Minuten erscheint ein Gesicht im Türrahmen, nimmt einen Stapel Zeitungen und verschwindet schnell wieder. Olli finanziert seit sieben Jahren sein Leben durch den Verkauf des Blattes. Viel verdient er damit nicht. „Ich verticke nur zehn bis zwölf Stück am Tag“, erzählt er. In den U- oder S-Bahnen könnte man sicher mehr loswerden, aber da reinzugehen und einen flotten Spruch aufzusagen, liege ihm nicht so. Olli steht am Bahnhof Friedrichstraße. Und nachts? „Na mal hier, mal dort“, antwortet er ausweichend.

Marcus Zywietz erkennt sofort, ob jemand obdachlos ist. „Das sieht man an den Klamotten, aber auch, wenn jemand mit einer riesigen Tasche und Schlafsack auftaucht, kann man eins und eins zusammenzählen“, erklärt der gelernte Tischler. In seinem Wohnwagen erzählen die Straßenverkäufer von ihren Erlebnissen. Zwei, drei Bier müsse er oft erst trinken, um locker zu werden und sich zu trauen, die Menschen anzusprechen, berichtet einer, der wie die meisten anonym bleiben möchte. „Wenn ich Zeitungen verkaufe, kann ich damit meine Drogen finanzieren, die mir helfen, die Nacht vernünftig zu überstehen“, so ein anderer. Es sind traurige, müde Menschen, die an Marcus Zywietz' Wohnwagen klopfen oder auch am Kältebus der Stadtmission, der regelmäßig am Bahnhof Zoo steht.

Ein paar Stunden später, an einem anderen Ende der Stadt. Es ist kurz vor 21 Uhr, und vor der Notübernachtung in Charlottenburg steht ein unauffällig gekleideter junger Mann und schreit. „Verreckt doch alle“, hallt es durch die Franklinstraße. Tom ist sein Name. Tags zuvor habe man ihn nicht mehr reingelassen, weil er zu spät gekommen sei, empört er sich. „Wie soll man denn pünktlich sein, wenn man auf der Straße lebt?“ Jetzt flucht Tom laut und unflätig, und deshalb wird er auch heute hier auf ein warmes Bett verzichten müssen. Nach einer halben Stunde und dem Fund einer großen Tüte fast frischer Brötchen im Müllcontainer des angrenzenden Bürokomplexes hat er sich beruhigt. „Es gibt ja auch noch andere Unterkünfte“, sagt Tom und trottet langsam davon.

Eine ist in Friedenau. Doch gegen 23.30 Uhr sind auch im Nachtcafe „Zum Guten Hirten“ schon alle 15 Schlafplätze besetzt. Es tue ihm wirklich leid, sagt der nette Mitarbeiter am Eingang, einen Tee zum Aufwärmen könne er anbieten und einen Stuhl, auf dem man die Nacht sitzend verbringen kann. Auf einer der Sitzgelegenheiten im Gang döst bereits eine Frau, daneben sitzt ein älterer Wohnungsloser in T-Shirt und kurzen Hosen. „Du musst früher hier sein, Jungchen“, rät er und gibt gleich weitere Tipps, wie man in Berlin eine kalte Nacht übersteht.

Der Tee ist alle und der Stuhl unbequem. Also zurück zum Zoo. Punkt Mitternacht beendet die Bahnhofsmission die letzte Essensausgabe. Nur noch wenige Menschen stehen vor dem Gebäude. Die Frau hinter dem Tresen redet auf einen jungen Mann ein, der kein Trinkgeschirr mitgebracht hat. „Du bist ja nicht zum ersten Mal hier und weißt doch, dass man bei uns ein eigenes Gefäß brauchst“, erklärt sie ihm geduldig. Mittlerweile haben sich wenige Meter weiter die ersten Jugendlichen schlafen gelegt – auf die Gitter des U-Bahn-Luftschachts. Dort beißt die Kälte nicht ganz so schlimm.

Olli ist plötzlich weg. „Ich werde solange Zeitungen verkaufen, bis ich mein Leben auf die Reihe bekomme“, hatte er noch kurz zuvor gesagt. Was das heiße: ’das Leben auf die Reihe bekommen’? Naja, eine eigene Wohnung und vielleicht eine richtige Arbeit haben, war seine Antwort. Nun ist er verschwunden. Die Nacht hat ihn unsichtbar gemacht. Genau wie all die anderen.

Frank Brunner

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