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Berlin: Kanal halb voll

THW auf Betriebsausflug: Mit einem Floß durch die Gewölbe des Berliner Regenwassernetzes

Die Einfahrt ins Jenseits ist sehr klein und sehr schwarz. Kein normaler Mensch würde freiwillig in diese Lücke in der Ufermauer der Spree in Mitte hineinfahren – es sei denn, er arbeitet bei den Berliner Wasserbetrieben (BWB) oder aber beim Technischen Hilfswerk (THW).

An diesem Freitagnachmittag jedenfalls unternimmt die Rechtsabteilung der BWB ihren, nun ja, Betriebsausflug in einen der größten Regenwasserkanäle der Stadt. Das wiederum eröffnet dem THW die Chance, die „Jet Float“ genannten Schwimmplattformen zu Wasser zu lassen, die phänomenale 350 Kilo pro Quadratmeter tragen, was bei einem Test locker für den THW-Lieferwagen gereicht hat. Wenn man die schwarzen Kunststoffwürfel dreilagig baut, tragen sie sogar Panzer oder dienen als Behelfsbrücke, erzählen die THWler, während sie die BWBler zu sich aufs Plastikfloß bitten und mit gelben Bauhelmen versehen. Unter denen bemerkt man glücklicherweise nicht so leicht die schaurig dunklen Wolken, die jetzt am Sommerhimmel aufgequollen sind.

Die THWler greifen zu den Paddeln. „Köpfe runter!“, ruft einer warnend. Dann wird es schwarz. Kühl wird es auch, und es riecht dezent nach etwas, das eine der Geflößten als „alte Radieschen“ charakterisiert. Es gibt Schlimmeres als diesen schwachen Geruch. Zum Beispiel den Hinweis des Kanalanlagen-Betriebsleiters Ralf Jannek, der heute den Reiseleiter macht und sagt: „Bei Starkregen ist der Kanal bis zur Decke voll.“ Ob es draußen schon regnet, erfahren wir hier unten wohl erst, wenn es zu spät ist. Was rauscht hier überhaupt so komisch? „Das ist die Flutwelle, die von vorn kommt“, sagt Jannek. Sehr witzig.

Es ist wohl eine Tram oder U-Bahn, denn wir müssten jetzt ungefähr unter dem Alexanderplatz sein. Die Augen haben sich ans Stirnlampenlicht gewöhnt und sehen ein erstaunlich intaktes Klinkergewölbe, in das auf Kopfhöhe hin und wieder ein Rohr ragt. Mischwasserüberläufe. Aber bitte nicht jetzt. Dank vieler Staustufen im Netz passiert es nur noch bei starken Regengüssen, dass ein Teil der Brühe aus der Kanalisation ungefiltert in die Spree läuft statt ins Klärwerk. „Mischwasser hört sich erst mal schlimm an“, sagt Jannek. Aber es könne ja auch Duschwasser sein, und eine Toilettenspülung habe selbst in heutigen Stopptastenzeiten allemal noch sechs Liter. Vor 100 Jahren, als der Kanal noch neu war, wäre die Brühe noch deutlich dicker gewesen.

Die meisten ihrer insgesamt 9600 Kanalkilometer prüfen die Wasserbetriebe mit Kameras, die auf kleinen Rollwagen montiert sind; nur ganz wenige sind begeh- oder gar schiffbar.

Ohne Regen steht das Wasser einfach auf Spreeniveau. Die eingetauchten Paddel sind klar erkennbar, der Geruch kaum noch merklich. Die Eleganz des von leichten Kurven durchzogenen Gewölbes wird immer wieder durch betonierte Querträger unterbrochen, unter denen kaum ein Meter Luft ist. „Kopf runter!“ Hinten auf dem Floß schabt ein Helm am Beton entlang, ein babyfingergroßer Stalagtit rieselt als Staub aufs Floß. Die THWler paddeln unerschütterlich.

Als rechts ein schwaches Licht in den Kanal fällt und ein Messgerät an einer Leine baumelt, ruft Jannek „Hallo, Micha!“ Micha antwortet nicht. Auch das Gerät schweigt. Es prüft die Luft auf Sauerstoff und giftigen Schwefelwasserstoff. Wer meint, dass man aus Kanaldeckeln auf die Straße klettern könne wie im Film, unterschätze deren Gewicht und ahne nichts vom darunter befindlichen Schmutzfang, sagt Jannek.

Wir müssten jetzt etwa unter dem Rosa-Luxemburg- Platz sein. Der Kanal wird noch enger, wir kehren um. Die Frage, wie das Superfloß hier wenden soll, beantworten die THW-Paddler, indem sie sich einfach umdrehen. Ein leichtes Schaukeln, dann geht es zurück. Eine halbe Stunde bis ins Diesseits. Wenn jetzt die Mischwasserwelle kommt, erwischt sie uns wenigstens von hinten.Stefan Jacobs

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