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Berlin: Karel Lomský (Geb. 1944)

„Eines Tages werde ich dir Prag zeigen.“

Magda Lieben, Jüdin, flieht 1943 aus Prag nach London. Sie ist schwanger. Ihr Mann, Samuel Lieben, Jude, kämpft in der Normandie. Ihre Eltern sterben in Auschwitz. Karel kommt auf die Welt. Die Deutschen bombardieren London. Magda flieht weiter, nach Schottland. Lebt in feuchten Kellern, schläft mit dem Kind in U-Bahn-Schächten. Karel erkrankt an Asthma. Als der Krieg vorbei ist, gehen Magda und Samuel mit dem Kind zurück nach Prag. Sie nennen sich jetzt Lomský. Das ist unauffälliger.

Karel hustet, unaufhörlich, die Luft bleibt ihm aus. Samuel und Magda nehmen alles Geld, das sie haben, schicken den Zweijährigen nach Davos, in eine Kinderlungenheilanstalt. Das Klima in den Bergen ist günstig, die Ärzte bemühen sich, die Mutter, der Vater aber sind in Prag. Der Zustand des Kindes bessert sich nicht. Es kehrt zurück nach 17 Monaten, spricht nur Schweizerdeutsch, bekommt am Abend seiner Ankunft einen schweren Asthmaanfall.

Karel will weiteratmen, weiterleben. Er studiert Medizin, unterbrochen von Krankheitsschüben, die ihn zurückwerfen, gegen die er sich stemmt, kühn und unnachgiebig, den Gedanken an die Zeit, von der er nicht weiß, ob sie ihm bleibt, immer im Kopf. Mit 24 Jahren promoviert er.

Mühsam ist das Atmen in Prag. Vielleicht noch einmal die heilsame Hochgebirgsluft, hofft Karel und nimmt eine Stelle in einem Krankenhaus in Davos an. Einige Wochen später klingelt sein Telefon. „Russische Panzer fahren durch die Stadt!“, ruft seine Mutter. „Samuel und ich gehen nach Schweden.“ Karel beantragt politisches Asyl in der Schweiz.

„Mit dem Hut in der Hand streife ich umher / in den Gässchen von Prag / und berühre die Steine. / Sie sind rau, aber der Dichter hat sie geküsst.“ – „Wer hat das geschrieben?“, unterbricht die junge Frau Karel. Jaroslav Seifert hat das geschrieben. Karel liest weiter: „Mein ganzes Leben lang hab ich Prag geliebt, / wie es alle unsere Dichter geliebt haben. / Vielleicht noch mehr, weil ich oft unglücklich war.“ Dann bricht er ab, schaut die junge Frau an, sagt: „Eines Tages werde ich dir Prag zeigen.“

Die junge Frau ist Ärztin, kommt aus Deutschland, heißt Sigrid und arbeitet im selben Krankenhaus wie Karel. Die große Liebe. Für beide. Sigrid zieht zu Karel. Es ist Winter. Karel erhält einen Brief der Vermieterin. Darin kündigt sie ihm das Zimmer, ein Leben im Konkubinat mit einer Frau, unter ihrem Dach, niemals. Karel und Sigrid stehen auf der Straße. Es ist kalt. Doch heiraten möchte Karel nicht, zu krank sei er. Sigrid sagt: „Ich liebe dich, will mit dir zusammen sein.“ Am 25. März 1970 laufen sie die Stufen des Standesamtes hinunter. Es schneit.

Im Herbst ziehen Karel und Sigrid nach Berlin. Das trockene Klima dort soll besser sein, auch die Aufstiegschancen. Karel wird Oberarzt für Laboratoriumsdiagnostik. 1987 hört er auf zu arbeiten. Mit 43 Jahren.

Er streicht seinen Kindern nun morgens die Frühstücksbrote, kocht mittags, schaut nachmittags auf ihre Hausaufgaben. Malt Bilder, schreibt Gedichte, spielt Klavier. Zieht sich zurück. Ein Maler porträtiert ihn: Ein Mann auf einem Sessel, um die Schultern ein schwerer dunkler Mantel, der Blick abgewandt, die obere Hälfte des Kopfes nicht mehr zu sehen.

Die Kuren bringen keine Besserung. Karel notiert im Tagebuch: „Die ideale Lebensspur ist schon viel zu schmal geworden. Ich übertrete sie leicht und muss das mit toten leeren Tagen bezahlen.“ Er steht am Fenster, beobachtet die Nachbarn, wie sie Koffer ins Auto tragen, Fahrräder aufs Dach schnallen, einsteigen, losfahren. Eine Weile sieht er dem Auto hinterher. Legt sich dann ins Bett, versucht zu atmen.

Sigrid setzt sich zu ihm. Er nimmt ein Buch, schaut sie an, liest dann: „Oft ließ Prag mich nicht schlafen, / ich irrte durch die dunklen Winkel / und streichelte die seidene Dunkelheit / der verlockenden Nächte. / Sie dufteten nach Frauenhaar und süßem Jasmin.“ Tatjana Wulfert

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