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Karl-Heinz Krause (1926-2016)

© privat

Berlin: Karl-Heinz Krause (Geb. 1926)

Wenn sie ihn in eine Funktion schubsen, sagt er: "Na gut, dann mach' ich das"

Kalle ist ein Kind aus dem Hinterhof, aus dem vierten Hinterhof, um genau zu sein. Zwischen Kuh- und Pferdestall, mit Schaben und Wanzen, mit einer Bäckerei vorne auf der Emserstraße und einem Milchgeschäft zur Siegfriedstraße raus, mitten im Arbeiterbezirk Neukölln, da kommt Karl-Heinz Krause her. Einen Vorteil haben die Bäckerei und der Kuhstall: Die Wände sind immer schön warm und im Winter können sie Kohle sparen. Mutter Marta, Vater Willi, Bruder Günter, Bruder Wolfgang und er, Kalle, teilen sich ein Berliner Zimmer und eine Küche, Toilette ist auf halber Treppe.

Sein Vater ist Arbeiter, ein Bauschlosser, und er, Kalle, geht auf die 19. Volksschule, bis zur 9. Klasse, wie das ein Arbeitersohn eben so macht. Kalles Flause mal am Berliner meteorologischen Institut zu studieren, endet beim Arbeitsvermittler vom Arbeitsamt. Es ist 1941, da haben die jungen Männer in der Rüstung zu arbeiten. Will er denn nicht dem Vaterland dienen? Und überhaupt, was hatte er, Kalle aus dem vierten Hinterhof, an der Universität zu suchen? Die Eltern brauchen seine Unterstützung jetzt und nicht irgendwann.

Doch Rüstung ist ihm nichts, also wird er Schriftsetzer-Lehrling, das fasziniert ihn, da ist die Schrift und die Sprache und das gedruckte Buch, etwas für seinen Intellekt, und dann ist da die Arbeit, mit den Händen, mit den Kollegen, da fühlt Kalle sich wohl. Nun setzt er also Buchstabe um Buchstabe in den Setzkasten in der Druckerei Paul Funke, einer kleinen „Quetsche“ in der Friedrichstraße.

Seine Kollegen sind linksgestrickt und so weit weg von den Nazis wie möglich. Auch Kalle versucht den Braunen aus dem Weg zu gehen. Zur HJ erscheint er einfach nicht, und wegen Untergewichts ziehen sie ihn erst im November 1944 zur Armee ein. Er kommt nach Neuruppin, nach Dänemark, nach Schlesien, ins Vogtland. Er wird verletzt, entgeht einem Kessel und landet, als alles vorbei ist, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft.

Bei den Amis gibt es wenigstens Essen, und so steht er im August 1945, entlassen und gut genährt, bei den Eltern vor der Tür. „Na, das dauert nicht lange, dann siehste aus wie wir“, sagte sein Vater und meint den Hunger, der nagt und nagt und aus Kalle, 186 Zentimeter, blonde Haare, Brille, einen macht, den sie „Dr. Lattengeist“ nennen. Kalle kauft die Zeitschrift „Kleingärtner und Siedler“ und findet heraus, was er alles verwerten kann: Löwenzahn, Brennnessel, Spitzwegerich, und junge Lindenblätter, die schmecken wie Froschlaich, aber in der Suppe den Magen füllen.

Trotz des Hungers beginnt für Kalle das Leben. Ein Kumpel bringt sein Grammofon mit, ein anderer die Schallplatten, ein dritter Bier und Brause, und schon tanzen sie. Kalle lernt Walzer. Kalle wird auch politisch. „Wenn man die Gewerkschaft nicht hätte, könnten die Firmen ja erst recht machen, was sie wollen“, sagt er und tritt ein. Auch in die SPD und in die Arbeiterwohlfahrt.

Warum er das auf sich nimmt, sich wählen lässt und sogar eine Neuköllner Falken-Jugendgruppe gründet und nicht nur Walzer tanzt und Mädels kennenlernt? „Das ist mein soziales Empfinden.“ Kalle ist einer, der hält, was er verspricht. Gewissenhaft und ordentlich. Aber auf die Bühne, in die Posten, springt er nie freiwillig. Wenn sie ihn in eine Funktion schubsen, sagt er: „Na gut, dann mach’ ich das eben.“

Kalle hat Tuberkulose. Deswegen wechselt er von seinem Drucker-Posten zu den Korrektoren. Eine saubere Arbeit. Erst beim „Telegraf“, später in der Bundesdruckerei. Mit Bleistift und Kugelschreiber geht er die Texte durch, hochkonzentriert, acht Stunden am Tag, 35 Jahre lang. Kalle kann auf einem weißen Blatt Papier so gerade und sauber schreiben, als ob da Linien wären.

Die Tuberkulose zwingt ihn zu einer Kur. Dort lernt er Herta kennen. Die Arbeitertochter und der Arbeitersohn verlieben sich und verloben sich und ziehen in ihre erste Wohnung. Ein Zimmer, eine Küche und ein eigenes Bad, sogar mit Zentralheizung. Pannierstraße 36 in Neukölln: Luxus pur.

Als er 1988 in Rente geht, gönnen sie sich etwas und ziehen im selben Haus in eine neue Wohnung, diesmal mit zwei Zimmern. So wie es ist, ist’s gut.

Und Kalle hat sie immer noch, diese Art, bei der man sich willkommen fühlt, ob alt oder jung, ob Ausländer oder Deutscher. Wenn er fragt, wie es geht, will er es wirklich wissen und lässt sich nicht mit einem „Gut“ abspeisen. Die Seniorennachmittage, zu denen er für die AWO einlädt und für die Herta Kuchen backt, sind ein Geheimtipp unter den Weißhaarigen. Seine Bustouren auch. Kalle organisiert und schafft und übernimmt und bringt die Leute zusammen.

Im Pflegeheim sitzt er jeden Tag an einem großen Tisch und erledigt seine Korrespondenz, schreibt und empfängt Briefe von seinen Freunden. Er ist der, der die meisten Besuche bekommt. Und dass es dann zu Ende geht, macht für Kalle aus Neukölln auch nichts. So ist es mit dem Leben: Es beginnt, man macht das Beste draus, und irgendwann ist Schluss.

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