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Berlin: Katharina Schwinger (Geb. 1902)

„Das hat sich dann ja schon gerechnet, in Rente zu gehen.“

Ihr erstes Interview gab sie mit 103 Jahren anlässlich der Einweihung der wiedererrichteten Dresdner Frauenkirche in ihrer gewohnt bedachten Art.

„Frau Schwinger, wieso haben sie mit 103 Jahren eine solch anstrengende Reise auf sich genommen?“ – „Ganz einfach: Um die Kirche noch mal zu sehen.“ – „Warum ist sie denn so etwas Besonderes für Sie?“ – „Ich habe als Kind in Dresden gewohnt, gleich in der Nähe der Kirche. Dort bin ich auch 1918 konfirmiert worden.“

Ihr Freudentag: Die älteste noch lebende Konfirmandin saß zu Tränen gerührt in ihrem Rollstuhl in der Mitte des Hauptgangs.

Die Bombardierung Dresdens, die zwei Tage, an denen die Kirche brannte, hatte sie ebenfalls miterlebt. Zu ihrem Glück allerdings in der Wohnung ihrer Schwester, am Rande der Stadt.

Sechs Geschwister waren sie gewesen, alle hat sie überlebt, auch deren Kinder. Katharina selbst blieb unverheiratet. Sie war ein einziges Mal verliebt gewesen, aber der Verlobte starb an einer Blutvergiftung, eine bittere Ironie des Schicksals, über die sie erst im Alter lächeln konnte: „Ausgerechnet er als Arzt! Beim Sezieren einer Leiche!“

Es blieb das letzte Unglück in ihrem Leben, und es war zugleich das Glück all der Kinder, die sie fortan großzog. Denn das war ihr schon als kleines Mädchen klar gewesen, welchen Beruf sie ausüben wollte. Im Traum hatte sie sich als Amme des Königs gesehen – folgerichtig wurde sie Kindergärtnerin.

Nach dem Krieg übernahm sie ein kirchliches Kinderheim in Lichterfelde, Heim und Kindergartenkinder, vierzig insgesamt, von denen zwanzig bis fünfundzwanzig Tag und Nacht um sie waren. Es war eine glückliche Kindheit für alle von ihnen; viele fanden sich an ihrem hundertsten Geburtstag ein, und immer noch war sie „die Mutti“ für jeden.

Für eine ganz besonders, denn 1949 erfüllte sie sich einen Herzenswunsch und stellte einen Adoptionsantrag für ihre Tochter Brigitte.

Sie wohnten zusammen im ersten Stock des Heims, aber wenn ein anderes Kind Sorgen hatte, durfte es ebenfalls mit ins Bett, und bei Gewitter hatte sie immer die ganze Horde im Schlafzimmer versammelt.

Tante Käthe hat meist gelacht, war streng auf gerechte Weise und hat aus ihrem Glauben nie einen Hehl gemacht. Das Tischgebet war selbstverständlich, „aber ihr könnt es auch gern in euren eigenen Worten sagen, was ihr dem lieben Gott mitteilen wollt.“

Wie viele Kinder sie mit Fug und Recht ihr Eigen nennen konnte, weiß keiner genau zu sagen, einige Hundert werden es sein.

1963 ging sie in den Ruhestand, 43 Jahre hatte sie gearbeitet, 45 Jahre bezog sie Pension.

Darüber musste sie oft schmunzeln, „das hat sich dann ja schon gerechnet, in Rente zu gehen.“

Die Jahre vergingen friedlich, aber durchweg rege, ihr Kind hielt sie auf Trab, all ihre Kinder. Ihr hohes Alter nahm sie jenseits der Neunzig ein wenig erstaunt zur Kenntnis: „Wundert euch nicht, wenn ihr noch häufiger zu Geburtstagen kommen müsst. Ich glaube, der liebe Gott hat mich vergessen!“

Sie war bis zuletzt bei bester Gesundheit, nutzte dann aber doch die Gelegenheit, sich kostenlos eine Brille machen zu lassen. Ein Optiker hatte geworben: „Für jedes Lebensjahr ein Prozent.“ – „Aber eigentlich brauch ich ja gar keine.“

Ihr Geheimnis: „Gesund leben, viel bewegen, wenig aufregen.“ Und einen Herzensberuf wählen, wiewohl sie von der Berufstätigkeit der Frau im Allgemeinen nicht so viel hielt: „Ob die Frau Merkel überhaupt kochen kann? Ich glaube, das kann die gar nicht.“

Für politische Mitwirkung hingegen war sie sehr wohl, sie selbst saß im Ältestenbeirat ihres Wohnheims und fand immer klare Worte.

Geklagt hat sie nie, doch, eins bekümmerte sie zum Ende hin: dass ihre Stimme nicht mehr zum Singen taugte. „Mein Zäpfchen bewegt sich nicht mehr. Ich kann ja nur noch knurren!“

An ihrem letzten Tag aß sie wie immer zu Abend, setzte sich in den Sessel und schlief ein. „Keine Trauerfeier!“, hatte sie verfügt, ein Lob und Dankgottesdienst, in dem alle ihr Lieblingslied anstimmen sollten: „Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön“. Gregor Eisenhauer

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