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Alles für einen. Gotthard Klein war bereits als junger Archivar der Berliner Diözese an dem Verfahren zur Seligsprechung Bernhard Lichtenbergs (links auf dem Gemälde) beteiligt.

© Kai-Uwe Heinrich

Katholische Kirche: Der Heiligmacher von Berlin

Gotthard Klein bekleidet in der katholischen Kirche das Ehrenamt des Postulators. Sein Ziel: die Heiligsprechung des einstigen Berliner Domkapitulars Bernhard Lichtenberg. Seine Aufgabe: ein Wunder finden, das dieser gewirkt hat.

Irgendwann kommt der Moment, da sind die Ruten ausgeworfen, die Netze ausgelegt. Dann wartet der Angler. Dass etwas anbeißt, und das Warten ist das Schönste, weil mit dem Warten die Ruhe kommt, die Gelassenheit, darum sitzt man schließlich am See, eigentlich. Gotthard Klein sitzt in seinem Büro in Kreuzberg in der Nähe der Spree. Gelassen, er hat getan, was er konnte: Die Netze sind ausgeworfen, vor Jahren schon. Das ist die Beute bisher: ein Kindermusical der katholischen Kirchengemeinde Heilig Geist, das Bernhard-Lichtenberg-Lied und ein illustriertes Lichtenberg-Buch für Kinder ab fünf Jahren. Alles ganz schön, aber es reicht nicht.

Was tun? Weitermachen.

Es ist drei Jahre her, dass Kleins Netz heftig unter Spannung geriet. Da kamen Männer zu ihm, katholisch wie er. Ein Freund von ihnen hatte Krebs, daraufhin flehten sie den toten Bernhard Lichtenberg an, er möge bei Gott ein gutes Wort für den Kranken einlegen. Kurz darauf war der Mann gesund. Dicker Fisch, ganz dicker Fisch. Wenn Klein den an Land gezogen hätte, seine Jagd wäre beendet gewesen. Er setzte sich hin und schrieb einen Brief an den einst Kranken. Ob sie sich mal treffen könnten, er hätte ein paar Fragen. Bald kam die Antwort: Nein, könnten sie nicht.

Angeln ist die schönste Form des Scheiterns. Dann muss man weitermachen, was bleibt einem auch übrig. Gotthard Klein ist 58 Jahre alt. Seit mehr als dreißig Jahren beschäftigt er sich mit Bernhard Lichtenberg, Domkapitular der katholischen St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlins Mitte während des Dritten Reiches. Man kann wohl sagen, dass Klein alles von Lichtenberg hat und weiß, was man haben und wissen kann. Nur eine Sache hat er nicht, und solange das so ist, hat er eigentlich gar nichts: Gotthard Klein braucht ein Wunder, und die gibt es eben nicht immer wieder, sondern ziemlich selten, und das ist kein Witz.

Lichtenberg wäre der erste Berliner Heilige

Ohne Wunder ist es nämlich nichts mit der Heiligsprechung von Bernhard Lichtenberg, so sind die Regeln. Berlin im Jahr 2016: Ein Mann sucht ein Wunder. Um einen anderen Mann vom Seligen zum Heiligen zu befördern.

Heilige aus Berlin? Gibt’s das überhaupt?

Otto von Bamberg, Apostel der Pommern, mag hier vorbeigeritten sein, lange vor der Stadtgründung. Auch später haben berühmte Geistliche eine Weile in Berlin gelebt. Aber so einer wie Lichtenberg, der 1900 nach seiner Priesterweihe hier aufschlug, mit 24, und blieb? Den gibt es noch nicht auf dieser hohen Stufe der Himmelsleiter.

„Bolschewistischer Propagandist“. Die Nazis erkannten in Bernhard Lichtenberg (1875-1943) zu Recht einen Feind und verurteilten ihn unter anderem wegen „Kanzelmissbrauchs“.
„Bolschewistischer Propagandist“. Die Nazis erkannten in Bernhard Lichtenberg (1875-1943) zu Recht einen Feind und verurteilten ihn unter anderem wegen „Kanzelmissbrauchs“.

© Kai-Uwe Heinrich

Bernhard Lichtenberg: Katholik, kein Antisemit. Predigte von der Kanzel gegen das Unrecht. Einer, der sich gerade machte. Der 1930 zum Besuch des Antikriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ aufrief und daraufhin ins Fadenkreuz des NS-Propagandaleiters Goebbels geriet. Drei Jahre später gewann Hitler die Wahl, bald darauf durchsuchte die Gestapo zum ersten Mal Lichtenbergs Wohnung. Wenn das einschüchtern sollte, dann hatte es nicht funktioniert: Lichtenberg machte weiter, opponierte gegen die Regierenden. Das reichte, um ins KZ zu kommen. Hätte gereicht, aber so weit kam er nie. Sondern starb 1943 auf dem Weg dahin. Er war denunziert worden, dann eingesperrt. Geschwächt nach knapp zwei Jahren in Haft, außerdem krank an Herz und Niere.

Lichtenberg – einer, der für seine Religion zu sterben bereit war, einer, der sich auf der Kanzel gegen die Verfolgung von Minderheiten starkmachte. Wichtig, auch so einen zu haben, als Vorbild, war ja eher die Ausnahme, damals. Erst recht in der Hauptstadt, wo Lichtenberg, längst schon im Visier der Machthaber, die weniger mutigen Katholiken mitunter in Bedrängnis brachte, wenn er auf der Ehrerbietung bestand, die ihm als Domprobst zustand. Da läuft also ein erklärter Staatsfeind durch die Stadt und will von anderen Katholiken gegrüßt werden. Nicht wenige, die die Straßenseite wechselten, wenn dieser Mann ihnen entgegenkam, sagt Klein, so war das, damals.

1996 sprach man Lichtenberg dafür selig, als Märtyrer. Selig ist die erste Stufe. Heilig das Ziel. Dafür braucht es ein Wunder, und Gotthard Klein soll es finden. Und wenn er es hat, dann geht die Arbeit eigentlich erst los. Denn Wunder werden untersucht, unterliegen strengen Kriterien und scharfen Abgrenzungen. Da haben sie Erfahrung in dieser Kirche, machen das schließlich seit ein paar Jahrhunderten. Am Anfang ist da ein Wunder, dann kommt ein behördlicher Verwaltungsakt – und am Schluss steht ein Heiliger. Klein hat kein Wunder, bisher. Aber er hat ein Büro voller Bücher und Regeln.

Also los. Wie macht man einen Heiligen?

Ein Wunder, das Klein nicht beweisen kann, ist keins

Klein ist zuständig für die Vorbereitungsarbeit: Er sammelt. Alles, was er in Sachen Lichtenberg bekommen kann. Berichte von Zeitzeugen, Dokumente, er untersucht Quellen und überprüft die Aussagen anderer, ob sie im zeitlichen Kontext stimmen können. Er ist der „Postulator“ der Berliner Diözese. Ein Ehrenamt, das ihm vor mehr als vier Jahren übertragen wurde. Als studierter Historiker und Archivar der Berliner Diözese beschäftigt er sich ansonsten mit allem, was die Kirche in Berlin so an Zeitdokumenten hat. Und immer wieder auch mit Lichtenberg. Man kann sagen: Klein ist überhaupt erst nach Berlin gekommen wegen Lichtenberg. Seit Mitte der achtziger Jahre lebt er hier, schon damals zuständig für das Verfahren zur Seligsprechung Lichtenbergs. Gotthard Klein ist die zentrale Schaltstelle für alle Bemühungen der Berliner Katholiken in Sachen Heiligsprechung von Lichtenberg.

Vor die Mystik hat der liebe Gott die Buchstaben gestellt. Ein Wunder, das Klein nicht beweisen kann, ist keins. Gotthard Klein, der Papiermensch – spürt er noch den Widerspruch?

Im Archiv. Gotthard Klein sammelt alle Akten und Dokumente, die mit Bernhard Lichtenberg zu tun haben.
Im Archiv. Gotthard Klein sammelt alle Akten und Dokumente, die mit Bernhard Lichtenberg zu tun haben.

© Kai-Uwe Heinrich

Geht hier ja nicht um mich, sagt er, sondern um den da; also der da, der da als Bild an der Wand hängt: Lichtenberg im Porträt, strenger Blick. Choleriker war er, aufbrausend. Mal gucken, wie sein Kreuzberger Postulator sich so schlägt. Denn so kann man die Sache schließlich auch mal sehen: Ganz schöne Räuberpistole, die er da erzählt. Von Kranken, die gesund werden, weil ein Gott es so will. Da könnten sich Fragen stellen, nicht zuletzt dazu, was denn dann aus den Kranken wird, die krank bleiben. Warum hilft denn da niemand? Klein schlägt sich gut, hält Kurs, wenn die Skepsis aufzieht. Die Überzeugung sitzt, sitzt fest. Lichtenberg ist bei Gott und Gott ist im Himmel, sagt Klein, wenn man so sagen will. Und Klein will.

Er hat eine Art zu sprechen, die mehr mit Gesang zu tun hat als mit Reden. Stimme leicht angehoben im Satz, fällt betonend mit dem letzten Wort nach unten. Dazu der Rhetoriker-Klassiker: Setze ein „Äh“ vor die wirklich wichtigen Wörter und du hast dein Publikum. So geht der Gotthard-Klein-Sound. Stimme hoch: „Gott ist der, äh“, Stimme runter, „ganz Andere.“ Stimme hoch: „Gott hat etwas, äh“, Stimme runter, „Personales.“ Das sind die Überzeugungen, die für ihn Fakten sind. Auch die 100.000 Euro sind Fakt, die das Heiligsprechungsverfahren am Ende wohl kosten wird, gut ein Drittel davon hat er schon an Spenden eingesammelt, sagt Klein.

Das ist die Theorie: Selige sind im Himmel bei Gott und können da ein gutes Wort für die auf der Welt einlegen, wenn diese ein Problem haben. So wie für den Krebskranken, dessen Freunde dann zu Lichtenberg gebetet haben. Nun könnte man natürlich fragen, warum ein Katholik mit einem ernsten Problem nicht gleich zu Gott betet, da wäre immerhin sichergestellt, dass das Gebet auf schnellstem Weg den Richtigen erreicht. Aber nein: Katholiken treten im Gebet bei Gott gerne als Gemeinschaft auf. Je mehr, desto besser. Und Lichtenberg im Himmel ist dann ihr Fürsprecher. Einer mit dem kurzen Draht. Der Umweg über ihn zu Gott ist dann gar keiner. Sondern eher eine Abkürzung. Aber nur, wenn es funktioniert. Und wenn es funktioniert, dann wäre das ein Beweis dafür, dass sie auf der Erde mit ihrer Lichtenberg-Verehrung nicht so ganz falsch liegen.

Die Frage ist simpel: Wer ist mein Nächster?

Was wiederum bedeuten würde, dass er, Lichtenberg, wirklich ein guter Mensch gewesen ist. Was wiederum bedeuten würde, dass die Leute auf der Erde sich an seinem Leben ein Beispiel nehmen können. Und dann wird es wieder ganz irdisch bei Gotthard Klein: Von Lichtenberg können wir eine Menge lernen, sagt er. Die Frage ist an sich simpel: Wer ist mein Nächster? Eben diese Frage, die er damals zum Umgang mit jüdischen Menschen stellte. Eben diese Frage, die sich immer wieder neu stellt, sagt Klein, zu jeder Zeit, für alle Menschen.

Lichtenbergica. Gotthard Klein sammelt für das Bistum Dinge, die Bernhard Lichtenberg einmal berührt hat. Hier: ein Rosenkranz mit Kruzifix.
Lichtenbergica. Gotthard Klein sammelt für das Bistum Dinge, die Bernhard Lichtenberg einmal berührt hat. Hier: ein Rosenkranz mit Kruzifix.

© Kai-Uwe Heinrich

Und das ist die Praxis: Klein sichtet Meldungen. Er bekommt ein wenig Post, es könnte gern noch mehr sein, aber bei diesen Dingen lässt sich ohnehin nichts erzwingen. Meldungen über erhörte Gebete. Da schreibt eine Frau aus Peru, dass der Haussegen nicht mehr schiefhängt, seitdem die Kinder an Lichtenbergs Grab in Berlin gebetet haben. Da meldet eine andere Frau aus Lissabon, dass ihr Portemonnaie gestohlen wurde und sie es später zurückbekam. Geld weg, aber das Bild von Lichtenberg noch drin. Da gibt es ein Kloster in Berlin, das eigentlich schon längst hätte geschlossen werden müssen. Aber es bleibt doch immer offen, weil zu Lichtenberg gebetet wird. Bereits Mitte der sechziger Jahre rief der Berliner Generalvikar auf dem Weg nach Bonn Lichtenberg im Himmel an, woraufhin ein Gefangenenaustausch zwischen BRD und DDR doch noch glückte. Lichtenberg hat ein Händchen für Gefangene. In einem anderen Fall ließ ein sowjetischer Soldat einen deutschen Gefangenen laufen, nachdem der Lichtenberg um Hilfe ersucht hatte. Alles ganz nett, aber kein Wunder. Anders gesagt: Nichts, was Gotthard Klein helfen könnte.

Was könnte denn helfen?

Der Trend geht stark in Richtung medizinisches Wunder, sagt Stefan Gatzhammer, der es wissen muss. Sitzt draußen am Griebnitzsee, in einem weiteren dieser Büros, die im Wesentlichen aus Büchern bestehen. Gatzhammer, der Kirchenrechtler. Angesiedelt an der juristischen Fakultät der Uni Potsdam, 51 Jahre, ein Mann mit Expertise. Sicher 15 Verfahren in Sachen Heilig- oder Seligsprechung, an denen er in der Vergangenheit beteiligt war. Hat Protokolle geschrieben, zu Akten beigetragen, kennt sich aus mit den Abläufen.

Zum Beispiel beteiligt in Sachen Anna Schäffer. Eine Magd aus einem bayerischen Dorf, die als Zwölfjährige bei der Kommunion Jesus ihr Leben als Opfer anbot. Vier Jahre später, im Sommer 1898, kam die Mitteilung von Jesus: Schon bald werde sie lange und schwer leiden müssen. Kurz darauf ein Arbeitsunfall, dann fast 25 Jahre im Krankenbett, zuletzt gelähmte Beine und Darmkrebs. Heilig seit Oktober 2012. Krankheit als Wunder.

Kleine Narben sind erlaubt

Lichtenbergica. Gotthard Klein sammelt für das Bistum Dinge, die Bernhard Lichtenberg einmal berührt hat. Hier: Lichtenbergs Hut.
Lichtenbergica. Gotthard Klein sammelt für das Bistum Dinge, die Bernhard Lichtenberg einmal berührt hat. Hier: Lichtenbergs Hut.

© Kai-Uwe Heinrich

Um die 2000 Anträge auf Selig- oder Heiligsprechung dürften sich derzeit in Rom beim Papst angehäuft haben, schätzt Gatzhammer; es ist ja nicht so, dass Gotthard Klein alleine mit seinem Plan wäre, jemanden zum Heiligen zu machen. Weltweit wird an Heiligsprechungen gebastelt, und wenn die Anträge erst einmal in Rom liegen, dann zahlt sich auch die Beharrlichkeit der jeweiligen Postulatoren aus. Immer vorausgesetzt, dass die Wunder eine gewisse Qualität haben, und da – wie gesagt – steht die Wunderheilung hoch im Kurs.

Dabei gäbe es durchaus auch andere Wunder, etwa bei Naturkatastrophen, sagt Stefan Gatzhammer. Aber was für welche? Mal angenommen, ein Erdbeben verwüstet eine Stadt und ein Haus bleibt stehen, in dem nachweislich fleißig gebetet wurde: Wäre das nicht was? Kann schon sein, wird aber in der Regel nicht mehr anerkannt, sagt er. Das Problem liege in der Dokumentation, da findet sich schnell einer, der sagt, dass es halt an der Statik lag. Besser ist die Lage bei medizinischen Wundern, denn da ziehen sie Ärzte hinzu. Durchaus auch mal bei Verfahren, die schon ein paar hundert Jahre zurückliegen. Wenn die sich die Sache nicht erklären können, dann sieht’s so schlecht nicht aus. Kurz: Wo die Beweislast umgekehrt wird, sind Wunder nicht mehr gar so fern.

Grundsätzlich ist es ja so, dass sich das Volk seine Heiligen selber macht, sagt der Kirchenrechtler. Durchaus auch unter Missachtung der eigentlichen Vorschriften. Zum Beispiel, dass der Heilige tot sein sollte. Tatsächlich aber sei Mutter Teresa von Kalkutta ein Beispiel dafür, wie jemand schon zu Lebzeiten als heilig verehrt wurde. Eigentlich geht das nicht. Was hingegen sehr wohl geht, ist eine Verkürzung der eigentlich vorgeschriebenen Wartezeit von fünf Jahren nach dem Tod, bis das Verfahren zur Seligsprechung in die Wege geleitet wird. Dafür allerdings braucht es eine entsprechende Anordnung des Papstes. Wie überhaupt festzustellen ist, dass der Papst alle Trümpfe in der Hand hat. Da können sie in den Diözesen machen und tun, der Papst entscheidet. Wenn er unbedingt will, übrigens auch komplett ohne vorherige Untersuchung.

Der Regelfall aber ist das normale Verfahren, und da gibt es durchaus umfangreiche Vorschriften. Wer beispielsweise durch ein Wunder von seiner Krankheit befreit wird, der sollte vorher schwer bis unheilbar erkrankt sein. Er darf keine wirksamen Medikamente bekommen haben, und wenn doch, dann müssen sie versagt haben. Ein Wunder liegt auch dann vor, wenn es zwar wirksame Medikamente gegeben hätte, aber nicht am Ort des Erkrankten. Die Heilung muss plötzlich erfolgen, der Patient darf nicht ohnehin schon auf dem Weg der Besserung gewesen sein und er muss auch in der Folgezeit gesund bleiben. Zehn Jahre sollten es mindestens sein, und zwar komplett gesund. Kleine Narben sind erlaubt.

Jede Berufsgruppe solle ihre Heiligen haben

Nun zur Wundermenge: Ab 1917 verlangte die Kirche für eine Seligsprechung zwei Wunder, in Ausnahmefällen sogar drei oder vier. Für die anschließende Heiligsprechung zwei oder drei. Keine Regel ohne Ausnahme. Bei Märtyrern reduziert sich bis heute der Wunderanspruch, kann sogar ganz erlassen werden. Im Jahr 1975 schraubte man die Ansprüche auch sonst etwas zurück: ein Wunder weniger für die Seligsprechung, bald darauf auch minus eins bei der Heiligsprechung. Der aktuelle Stand der Dinge gilt seit 1983 und verwässert auf den ersten Blick die Ansprüche insbesondere bei den anzuhörenden Ärzten: Bis dahin bestanden die entsprechenden Kommissionen aus sieben Medizinern, die mit einer Zweidrittelmehrheit entscheiden mussten, was streng genommen eine Mehrheit von aufgerundet 4,7 Ärzten bedeutete – ein Wunder für sich. Aber egal, denn seit 1983 bestehen die Kommissionen aus fünf Ärzten. Wenn drei ein Wunder erkennen, reicht das.

Für den Toten nur Gutes. Im Anbetungskloster St. Gabriel in Charlottenburg beten die „Rosa Schwestern“ auch für ihren Gönner Lichtenberg.
Für den Toten nur Gutes. Im Anbetungskloster St. Gabriel in Charlottenburg beten die „Rosa Schwestern“ auch für ihren Gönner Lichtenberg.

© Thilo Rückeis

Verweichlichung der Sitten?

Nein, sagt Stefan Gatzhammer, man prüfe schließlich strenger als zuvor. Das grundsätzliche Problem sei ohnehin ein anderes: In den meisten Fällen sind es Mitglieder der Kirche selbst, die als potenzielle Heilige in die Prüfung gehen. Allgemein solle man viel breiter aufgestellt sein. Wo ist die heilige Kellnerin vom Oktoberfest?, fragt er. Jede Berufsgruppe solle ihre Heiligen haben. Auf diese Weise hätte jeder auf Erden sein Vorbild und seinen Ansprechpartner im Himmel.

Ach ja, die Ansprechpartner. Auf Lichtenbergs Spuren unterwegs in Berlin landet man irgendwann im Westen, Bayernallee 31. In der Nähe des Olympiastadions gibt es eine Standleitung nach oben, seitdem Lichtenberg vor knapp 80 Jahren hier ein Kloster angesiedelt hat: die Steyler Anbetungsschwestern, wegen der Farbe ihrer Kleidung die „Rosa Schwestern“. Wer ins Kloster geht, der kommt nicht weit, sondern landet in einem Flur, links und rechts gehen die Türen ab. An der Stirnseite öffnet sich ein vergittertes Fenster, das Gesicht einer Frau erscheint. Gleich rechts, ins Sprechzimmer, sagt sie, Schwester Mechtild kommt gleich. Also Sprechzimmer. Ein Tisch, vier Stühle und ein Gitter, das den Raum trennt.

Dann Schwester Maria Mechtild, Maria heißen sie alle, der Zweitname macht den Unterschied, 83 Jahre, Händeschütteln durchs Gitter. Vergittert müssten sie seit dem zweiten vatikanischen Konzil Mitte der sechziger Jahre nicht mehr leben, aber sie haben sich dazu entschieden, sagt sie, kleine Frau, leise Stimme, denn das, was sie hier machen, funktioniert besser in der Isolation.

Beten im Schichtbetrieb, 24 Stunden am Tag

Ohne Lichtenberg wären sie gar nicht hier. Umtriebiger Mann, viele Reisen in den 20er und 30er Jahren, auch nach Steyl in den Niederlanden, jetzt ein Stadtteil von Venlo. Wir brauchen heute nichts dringender als Gebet, soll er gesagt haben. Und Gebet haben sie reichlich in Steyl, und seit Ende 1936 auch in Berlin, als Lichtenberg die Berliner Zweigstelle der Steyler Schwestern eröffnete. Seitdem beten sie hier immer, durchgehend. Im Schichtbetrieb, 24 Stunden am Tag. In der Kirche neben dem Kloster, in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges im Keller.

Früher einmal hieß Schwester Maria Mechtild Romanie Kotulla, lange her. Seit 1956: ein geregeltes Leben. Sie führen hier Tabellen mit dem jeweiligen Gebetsbeginn. Bis 22 Uhr beten aushilfsweise auch Laien, die Nachtschicht machen sie selber. Im Idealfall auf den Knien, aber wer nicht anders kann, der darf auch sitzen. Nachts eine Stunde pro Schwester, tagsüber 30 Minuten. Ewige Anbetung, ohne Pause. Warum?

Weil Gott es uns geschenkt hat, sagt sie. Es ist ja alles ganz gegenständlich, keine Symbolik. Die geweihte Hostie in der Monstranz, zu der sie beim Beten schauen, ist viel mehr als einfach nur eine geweihte Hostie. Tatsächlich: Im Moment der Weihe wird sie zu Jesus. Und natürlich ist es nicht die Frage, ob das alles etwas bringt, und wenn ja, was. Das wissen wir nicht, sagt Schwester Maria Mechtild.

Stille Andacht. Eine der "Rosa Schwestern" im Anbetungskloster St. Gabriel.
Stille Andacht. Eine der "Rosa Schwestern" im Anbetungskloster St. Gabriel.

© Thilo Rückeis

Was weiß jemand von der Welt, der in zehn Jahren ein einziges Mal das Haus verlassen hat, und das auch nur, um zum Arzt zu gehen? Alles? Oder nichts? Und wenn es nicht um Wissen, sondern um Gewissheiten geht, dann hat auch diese ihren Platz: Für Lichtenberg selbst, sagt Schwester Maria Mechtild, macht es keinen Unterschied, ob er nun selig oder heilig ist. Denn der Selige ist ja bei Gott. Mehr geht nicht. Für die lebenden Katholiken geht indes sehr wohl noch mehr: Heilige werden weltweit verehrt, Selige eher in ihren Gemeinden. Eine Frage der Reichweite, der Strahlkraft.

Die Strahlkraft des Ordens hingegen sinkt beständig. 17 Frauen leben hier, zwei von ihnen sind krank und fallen für die Anbetung aus. Platz jedoch hätten sie für 30. Warum kommt kaum jemand zu ihnen ins Kloster? Weil die jungen Menschen nicht mehr hören, wenn Gott sie ruft, sagt die Schwester. So viele Verlockungen, so viel Ablenkung. Wie schnell es doch passiere, dass die Jungfräulichkeit vor der Heirat verloren gehe, sagt sie, und wer nicht mehr Jungfrau ist, der sei für den Heiligen Geist nur noch schwer zu erreichen. Dann zieht er halt weiter, der Heilige Geist, die Frauen hören ihn nicht mehr, und so wird das Kloster immer leerer, sagt sie, dann muss sie los, gemeinsame Anbetung, alle Schwestern zusammen.

Irgendwann werden sie das Grab öffnen

Also rein in die Klosterkirche, Gesang und Gebet. Irgendwann verlassen alle bis auf eine singend die Kirche. Die eine, das ist die mit der Folgeschicht. Aber statt zu knien, geht sie zu einem Mann, der auf der anderen Seite des Gitters steht, das die Kirche teilt. Ein Gespräch, sicher fünf Minuten lang, dann zurück zum Altar, zur Anbetung, und das wird sie wohl gewesen sein: die erste Gebetsunterbrechung seit 80 Jahren. Und jetzt? Man sieht nichts, man merkt nichts, es scheint, als wäre alles so wie vorher. Oder eben nicht, wer weiß das schon.

Raus aus der Kirche, hinein in eine andere Welt. Faschingszeit in Berlin, in der Auslage einer Konditorei die Pfannkuchen, davor eine Frau mit Kind. Pfannkuchen, sagt das Kind, das sind ja Pfannkuchen! Voller Glück.

Das Glück kommt für die Gläubigen am Ende, wenn die Regeln eingehalten wurden. Umfangreiche Regeln, so umfangreich, dass sich irgendwann die Frage stellt, ob die Regeln zum Kern der Sache führen. Oder schon der Kern sind. Aber selbst wenn es so wäre, dann wäre für die, die da in Berlin an Bernhard Lichtenbergs Heiligsprechung arbeiten, ja immer noch etwas Greifbares da. Lichtenberg selbst, denn es gibt ihn ja noch.

Bei Gebetserhörungen bitte melden

Ruhestätte. Bernhard Lichtenbergs Gebeine liegen treppab in der St.-Hedwigs-Kathedrale in Mitte – noch.
Ruhestätte. Bernhard Lichtenbergs Gebeine liegen treppab in der St.-Hedwigs-Kathedrale in Mitte – noch.

© Kai-Uwe Heinrich

In der St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlins Mitte, in der Unterkirche, dritte Kapelle von links: sein Grab. Eine Grabplatte, ein paar Stühle und Kerzen. Broschüren über sein Leben liegen dort, kleine Handzettel. Zwei Seiten Text, ganz unten der Hinweis: Wenn jemand von Gebetserhörungen berichten möchte, dann möge er das doch bitte bei Gotthard Klein tun. Klein hat sich breit aufgestellt. Die Angeln sind ausgeworfen, und zwar so viele, das geht hier stark in Richtung Schleppnetzfischerei.

Wenn es nach Gotthard Klein geht, dann werden sie irgendwann das Grab öffnen. Sie wollen an Lichtenberg ran, ganz unmittelbar. An seinen Körper. Sie wollen Knochen entnehmen, als Reliquien, die dem menschlichen Bedürfnis nahekommen, die Dinge zu berühren, die einem wichtig sind. In einem Reliquiar wollen sie sie ausstellen, um sie zu verehren. Natürlich gibt es auch dafür wieder Vorschriften und Regeln. Zum Beispiel die, dass die Identifizierung der sterblichen Überreste in die Zuständigkeit des Bischofs der Diözese fällt. Der wiederum einen Vertreter schicken kann, der mit einem „Promotor iustitiae“, einem Notar, zwei Zeugen und zwei Sachverständigen losziehen soll. Sieben Lebende und ein Toter, bei der Öffnung des Grabes soll gebetet werden. Was vom Toten als Reliquie verwendet wird, entscheidet dann der Bischof. Allerdings darf er nur die Teile des Toten mitnehmen, die sich „vom Rest des Körpers bereits losgelöst“ haben. So sind die Regeln – zumindest die katholischen.

Die Sache ist wichtig für die Katholiken in Berlin

Anruf beim Gesundheitsamt Berlin-Mitte, Abteilung für Hygiene- und Umweltmedizin. Wie findet man das, wenn jemand ein Grab öffnen möchte mit der Absicht, anschließend Knochen auszustellen? Hat er in 20 Berufsjahren noch nicht erlebt, sagt der Beamte, klingt stark nach Einzelfallprüfung. Am Ende wohl ein Fall für den Bezirksbürgermeister. Was sicher ist: Im Fall der Fälle würde die siebenköpfige katholische Delegation von Amts wegen noch ein paar Ausrüstungsgegenstände dazubekommen. Mundschutz, Einweghandschuhe. Ansonsten aber scheint sich eine gewisse Ratlosigkeit am anderen Ende der Leitung auszubreiten. Obwohl: Ein verwaltungstechnisches Detail könnte sich als Hebel erweisen. Im Gesundheitsamt sind sie für Exhumierungen zuständig. Exhumierungen aber meint Ausgraben aus der Erde. Ohne Erde – keine Exhumierung. Anders gesagt: Wer nicht eingegraben ist, kann auch nicht ausgegraben werden. Dann wäre das Gesundheitsamt vielleicht gar nicht zuständig, sagt der Beamte. Könnte gut sein für Gotthard Klein. Ist aber vielleicht auch einen Schritt zu weit gedacht. Denn vorher braucht es ja ein Wunder.

Und Wunder klärt man vor allem in Gesprächen. Nicht irgendwelche Gespräche, sondern zielgerichtete Befragungen. Überrascht es zu hören, dass es durchaus Regeln gibt für solche Gespräche? Es gibt sie, und über die richtigen Fragen wacht der Berliner Weihbischof Matthias Heinrich. Mit Gotthard Klein in gutem Kontakt, sagt er, wie überhaupt die ganze Lichtenberg-Angelegenheit eine wichtige Sache für die katholische Kirche in Berlin ist. Da achten sie auch weit oben drauf, was da unten passiert, und Heinrich ist als Weihbischof weit oben. Darüber ist noch der Bischof, der wiederum wäre es auch, der Heinrich im Heiligsprechungsverfahren zum Kirchenanwalt ernennen könnte: zum „Promotor iustitiae“. Sieht so aus, als würde Heinrich im Fall der Fälle bei Lichtenbergs Graböffnung dabei sein müssen. Vorher aber müsste er zunächst Sorge dafür tragen, dass die Befragungen korrekt ablaufen.

Nach den Vorschriften würde der Promotor zusammen mit einem Fachexperten einen Fragebogen entwerfen. Ein solcher fällt mitunter etwas umfangreicher aus. Mal angenommen, die Sache wäre vor drei Jahren anders gelaufen und der einst Krebskranke hätte als Zeuge ausgesagt, dann hätte ihn in etwa Folgendes erwartet: Die Kirche hätte alle seine Krankenakten sehen wollen. Alle Ärzte hätten von der Schweigepflicht entbunden werden müssen. Wäre er operiert worden – der Operateur hätte ein paar Fragen beantworten müssen. Ebenso der Assistenzarzt, das gesamte Operationsteam, die Oberschwester und die den Patienten betreuende Krankenschwester. Außerdem alle weiteren Ärzte jenseits des Krankenhauses. Gerne auch diese, die mit den Diagnosen der anderen Ärzte nicht einverstanden waren.

Problem auf Erden, Lösung im Himmel

Irgendwann wären sie zum jetzt Geheilten gekommen, eine Wunderheilung von Krebs ist durchaus eine Nummer, die längere Befragungen rechtfertigen würde. Kirchenrechtler Stefan Gatzhammer hat in solchen Fällen mitunter schon mehrere Tage mit einem Zeugen verbracht, es fällt halt eine Menge an. Erst einmal würden sie nach der Familie fragen. Psycho-physische Gebrechen? Erbkrankheiten? Was war mit den Eltern? Andere enge Verwandte? Was ist mit Mitgliedern der Nebenlinie? Und die Vorfahren? Dann der Geheilte selbst: Vorgeschichte, erste Symptome, vielleicht Fieber, Herz-Kreislauf, wie war das genau mit dem Krebs? Und wie war das eigentlich mit allen anderen Krankheiten, die derjenige jemals vorher gehabt hat und an die er sich noch erinnern kann?

Wenn sich jemand verletzt hat, vielleicht gestürzt ist: Wie hat er danach dagelegen? Wenn jemandem etwas auf den Kopf gefallen ist: Was war das? Wo lag der Gegenstand danach? Gibt es dafür Augenzeugen und wenn ja, welche? Wenn der Krankenwagen kam: welcher denn? Wo fuhr der dann hin, wie lag man im Wagen, wie lang war die Fahrt? Und dann die Ärzte: Welche Qualifikation hatten die, eher spezialisiert, eher klinisch oder universitär? Und wie sieht es aus mit dem Ruf, den die jeweiligen Mediziner in ihrem Umfeld genießen? Kapazität oder Pfuscher?

Das alles sind die Eventualitäten; die Sachen, die man bezweifeln und folglich untersuchen lassen kann. Und dann ist da diese eine andere Sache: dass jemand auf der Erde ein Problem hat und jemanden im Himmel um einen Botengang bittet. Woraufhin der zu Gott geht und Gott das Problem löst. Eine Kausalität, die sich nicht untersuchen lässt. Muss man halt dran glauben.

Hut, Bibel, Lederkoffer

Zurück zu Gotthard Klein, ein letztes Mal im Kreuzberger Archiv der Berliner Diözese. Im Keller, am Ende langer Gänge, Neonlicht, eine Tür, dahinter ein Raum voller Registerschränke. Microfiche-Geräte, sie brauchen sie im Lesesaal zur Akteneinsicht und kommen nur schwer an Ersatzteile. Also schlachten sie die alten Geräte aus und lagern die Reste im Keller. Gestapelte Europaletten und Umzugskartons. Alles eher profan, aber dann halt auch wieder nicht. Denn da steht ein Metallschrank, für den Klein den Schlüssel hat, und darin lagert er seine Schätze in Sachen Lichtenberg. Das sind unsere Lichtenbergica, sagt er; tatsächlich: Lichtenbergica, so heißt das halt, Klein ist da ganz ernst.

Seine Tasche. In seinem Archiv sammelt Postulator Gotthard Kleine private Gegenstände Lichtenbergs.
Seine Tasche. In seinem Archiv sammelt Postulator Gotthard Kleine private Gegenstände Lichtenbergs.

© Kai-Uwe Heinrich

Ein alter Hut beispielsweise, eine Bibel, ein kleiner Lederkoffer. Es gibt eine Art der sprachlichen Abgrenzung, die dazu führt, dass die Dinge zu mehr werden als nur Hüte, Bücher oder Koffer. Eben seine Hüte, Bücher oder Koffer, und wenn man diesen Gedanken mitmacht, dann entstehen Lichtenbergica – Dinge, die er berührt hat. Dinge, die damit zu Reliquien geworden sind. Nicht so wichtige wie seine Knochen, aber immerhin. Er hat sie angefasst und benutzt und jetzt sind die Sachen hier. Außerdem ein stecknadelkopfgroßes Steinchen aus der Via Dolorosa in Jerusalem, wo Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung entlanggelaufen sein soll. Und ein Stofffitzelchen, das irgendwann einmal auf eine andere Reliquie gelegt wurde, was dazu führte, dass der Stoff selber zur Reliquie geworden ist, Kategorie drei, die schwächste. In einem Kreuzberger Keller lagern also unter anderem Reliquien dritten Ranges in der ersten Ableitung, quasi: Reliquien, die Lichtenberg selber als Reliquie besaß.

Eine Regalseite weiter haben die das Archiv mitbenutzenden Protestanten eingelagert, was ihnen lagerungswürdig zu sein scheint: Ein Schlagzeug, ein Damenrad mit Nabenschaltung und neonfarbene Cowboystiefel. Und natürlich weiß Klein, dass das alles hier durchaus bizarr wirken mag, aber darum geht es doch gar nicht. Sondern es geht um diejenigen, die ihre Schlüsse ziehen aus einem Leben, das am 5. November 1943 endete. Wo einer zu Tode geschunden wurde, weil er die einfache Wahrheit aussprach, dass der eine Mensch nicht mehr wert ist als der andere. Als „Gerechter unter den Völkern“ ist Lichtenberg in Yad Vashem ausgezeichnet worden. Alles Rituale und Symbole der Anerkennung, posthum, wenn es zu spät ist. Aber nicht ganz. Wenn etwas in die Gegenwart strahlt, dann werden die, denen das etwas bedeutet, anders. Weicher.

Mehr als machen und tun und hoffen kann er nicht

Klein hat eine Luftpolstertasche der Post in seinem Schrank, darin eine Pralinenschachtel, Hachez Chocolatier aus Bremen, Zartbitter und Vollmilch. Aber nicht voll Schokolade, sondern mit Verbänden, die Lichtenberg in der Haft benutzt haben soll. Beinwickel für einen schwer Herz- und Nierenkranken, er brauchte Pflege, und Verbände durfte er bekommen. Die Schwester der Kirchenverwaltung brachte sie, holte sie auch wieder ab und wusch sie. Aber nicht gut genug, auf den Verbänden sind Flecken, Verfärbungen. Sieht aus wie Blut, Wundflüssigkeit. Aufbewahrt in einer Bremer Pralinenschachtel. Das ist natürlich alles provisorisch, sagt Klein, und authentifizieren lassen müssen sie die Verbände irgendwann auch noch. Aber schön, sie jetzt schon dazuhaben.

Seine Binden. Klein bewahrt auch Lichtenbergs Beinwickel auf. Der schwer Herz- und Nierenkranke brauchte Pflege, Verbände durfte er auch in Haft bekommen.
Seine Binden. Klein bewahrt auch Lichtenbergs Beinwickel auf. Der schwer Herz- und Nierenkranke brauchte Pflege, Verbände durfte er auch in Haft bekommen.

© Kai-Uwe Heinrich

Was fehlt, ist das Wunder. Was fehlt ist einer, der vom Krebs geheilt wird und reden will. Sagen Sie mal, Herr Klein, nach all der Arbeit: Frustriert das nicht? Na ja, sagt er dann, seinen Auftrag verstehe er eher defensiv. Als geduldiges Sammeln.

Berlin im Jahr 2016 – eine Stadt voller Parallelgesellschaften. Manchmal überschneiden sie sich, dann treten die einen aus ihrer Welt und sprechen vor bei den anderen. Dass es gut möglich sei, dass die Kranken gesund wurden, weil im Himmel einer zum lieben Gott gegangen ist und darum gebeten hat. Und ob man nicht mal reden könne. Öffnet man solchen Menschen die Tür?

Vielleicht klappt es nie, vielleicht findet Klein nie ein Wunder. Wäre er dann gescheitert? Falsche Frage, braucht man einem nicht zu stellen, für den der Todestag „der Geburtstag zur Ewigkeit“ ist. Da sind die Maßstäbe einfach anders, was soll einem wie ihm denn passieren? Mehr als machen und tun und hoffen, dass es reicht, kann er ja ohnehin nicht.

Mal katholisch gefragt: Wenn Klein in den Himmel kommt, trifft er dann Lichtenberg? Ist er dann auf einer Stufe mit den Seligen? Das weiß ich nicht, sagt Gotthard Klein.

Und dass er sich aber recht sicher sei: Einmal oben angekommen, gibt es bestimmt keine Hackordnung mehr. Klingt angesichts der vielen Regeln, die sie auf Erden zu beachten haben, nach einem erstaunlich liberal gehandhabten Raum, glücklicher Anarchie. Keine Regeln zu haben und befolgen zu müssen, kann auch eine Regel sein. Dass es im Himmel einen eigenen Himmel der Archivare gäbe, sagt Klein, daran glaube ich nicht.

Dieser Beitrag ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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