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Berlin: Kein deutsches ABC mehr für ausländische Schulanfänger? Kritik am bisherigen Integrationskonzept wächst Vorschlag: zuerst in der Muttersprache Schreiben lernen

Von Susanne Vieth-Entus Unter Berlins Pädagogen wächst die Kritik am bisherigen Konzept der Ausländerintegration in den Grundschulen. Da über ein Viertel von ihnen in Berlin keinen Schulabschluss erreicht, wird der Ruf nach Reformen immer lauter.

Von Susanne Vieth-Entus

Unter Berlins Pädagogen wächst die Kritik am bisherigen Konzept der Ausländerintegration in den Grundschulen. Da über ein Viertel von ihnen in Berlin keinen Schulabschluss erreicht, wird der Ruf nach Reformen immer lauter. Die Erzieherausbildung soll reformiert, die Schulen Richtung Ganztagsunterricht ausgebaut werden. Ein radikales Umdenken bei der Sprachförderung ausländischer Schüler fordert jetzt auch der Erziehungswissenschaftler Jörg Ramseger von der Freien Universität. Er propagiert eine Abkehr vom reinen Deutschunterricht, der die Muttersprache völlig ausblendet. Etliche Schulleiter unterstützen das.

„Wir zwingen die Kinder, mit sechs Jahren bei Null zu beginnen, indem wir ihnen nur deutsche Fibeln vor die Nase halte. Als erstes haben sie in der Schule also ein Misserfolgserlebnis“, kritisiert der Forscher, der seit Jahren die Berliner Grundschulreform wissenschaftlich begleitet. Die Muttersprache sei bei den Erstklässlern noch nicht weit genug gefestigt, um darauf eine weitere Sprache, nämlich das Deutsche, aufzubauen. Deshalb will er, dass zuerst die eigene Sprache alphabetisiert wird. Deutsch soll in dieser Zeit nur mündlich vorkommen, bevor auch hier die Alphabetisierung folgt. Ramseger will also ein zweisprachiges Konzept. Die Muttersprache soll mindestens drei Jahre, möglichst bis Klasse 10 beibehalten werden.

In Berlin gilt dagegen seit Jahrzehnten die Doktrin, dass ABC-Schützen ausschließlich deutsch alphabetisiert werden. Nach den erschreckenden Pisa-Ergebnissen stellt sich aber die Frage, ob dieses Konzept ein Irrtum war. Laut Ramseger sind sich Sprachwissenschaftler weitgehend einig, dass man den Prozess der Begriffsbildung in der Muttersprache nicht einfach mit der Einschulung abschneiden darf. In der Folge entsteht das, was man „doppelte Halbsprachigkeit“ nennt: Die Kinder beherrschen keine Sprache richtig. So sei es nicht verwunderlich, dass die Hälfte der 15jährigen Migranten nur auf der niedrigsten Stufe Lesen und Schreiben können, sagt Ramseger.

Das Scheitern der Migrantenkinder ist auch Schulsenator Klaus Böger (SPD) bekannt. Aber er zieht andere Schlüsse. Anstatt die zweisprachige Alphabetisierung zu fördern, die einige Schulen für Türken schon versuchen, will er den Deutschunterricht noch verstärken. Ramsegers Konzept erscheint ihm „sehr teuer“, zweitens gebe es dazu „unterschiedliche Auffassungen in der Wissenschaft“. Ramseger kennt diese Einwände. Aber auf Nachfrage hat man ihm noch keinen dieser „anderen Wissenschaftler“ genannt. Und er hält dagegen, dass New York flächendeckend bilinguale Klasse für ausländische Kinder einführt.

Was das Geld anbelangt, macht der FU-Professor ebenfalls eine andere Rechnung auf. Er fragt, was denn teurer sei: die zusätzlichen Lehrer, die man aus dem Ausland anwerben müsste, oder die Folgekosten für Heerscharen von arbeitslosen Migranten.

Für Ramsegers bilingualen Ansatz gibt es unter Schulleitern einige Sympathie. „Eine sichere Grammatik in der Muttersprache ist nötig“, sagt Karin Babbe von der Weddinger Erika-Mann-Grundschule. Allerdings sieht sie organisatorische Probleme. Um muttersprachlichen Unterricht durchführen zu können, müssten die Kinder nach Herkunft „sortiert“ werden. Wenn es nicht genug arabische oder serbokroatische Kinder an einer Schule gibt, müssten sie zu einer weiter entfernten Schule wechseln. Auch wollten viele Eltern lieber, dass ihre Kinder mit Deutschen zusammen eine Klasse besuchen, gibt Erhard Laube von der Schöneberger Spreewald-Grundschule zu bedenken. Doch auch Laube hält die Vernachlässigung der Muttersprache für einen „großen Fehler“. Özcan Mutlu, schulpolitischer Sprecher der Grünen schlägt als Kompromiss vor, die Muttersprache zwei bis drei Jahre lang zu unterrichte.

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