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Berlin: Kein Geld mehr für Kaiser, Kanzler und Kriminelle

Das Lautarchiv ist eine Tonsammlung von Sprachen, Musik sowie Reden berühmter Persönlichkeiten – jetzt soll es geschlossen werden

Mit tiefer Stimme und rollendem „R“ beschwört seine Majestät Kaiser Wilhelm II. die Erfolge von Friedrich dem Großen und schickt die Truppen in den ersten Weltkrieg. Drei Jahre später tritt der „Sieger von Tannenberg“ vors Mikrophon; Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg verkündet mit gedrückter Stimme: „Schwer ist die Zeit, aber sicher der Sieg“, und dann ist noch ein dumpfes „Jawoll!“ zu hören. Ein weiteres Jahr vergeht, die militärische Niederlage ist besiegelt. Es gibt eine neue Verfassung und vor den Reichstag tritt dessen erster sozialdemokratischer Präsident. Mit fester Stimme verteidigt Paul Loebe die viel gescholtene Weimarer Republik, weil jetzt erst „der Wille der Wählerschaft frei und ungezwungen zum Ausdruck kommt“. Nach dem zweiten Weltkrieg ist Loebe einer der Verfasser des Grundgesetzes – der Parlamentsbau nahe Reichstag und Kanzleramt trägt heute seinen Namen.

Am Kupfergraben 5, neben dem Wohnsitz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sind diese Reden heute auf alten Schellack- und Gelatine-Platten oder auf Wachswalzen zu finden. Im „Lautarchiv“ der Humboldtuniversität lauscht man den Stimmen von Königen und Kaisern, Politikern und Wissenschaftlern sowie den Aufnahmen von 250 Sprachen, Dialekten und Musikstilen, festgehalten in der Zeit um 1900. Sechs Jahre lang hat ein Wissenschaftler diese Schätze aus verstaubten Pappkisten gehoben, Platten abgespielt, auf digitale Tonträger kopiert, in eine Datenbank geordnet und teilweise ins Internet gestellt. Doch diese Arbeit am historischen Erbe wird abgebrochen. Das Geld ist aus. Rund 500 Aufnahmen drohen unwiederbringlich verloren zu gehen.

Auf den grünen Stahlschränken mit den Hängeregistern voller Tonträger steht das „Edison Home Phonograph“. In das sperrige Gerät aus braunem Holz und schwarzem Eisen wird eine Wachswalze eingespannt. Dann graviert eine spitze Nadel die Schwingung der Klänge in das weiche Medium. Zum Abhören der Laute tauscht man die spitze gegen eine runde Nadel aus, um beim Abtasten die Rillen zu schonen. Dennoch verblasst der Klang jedes Mal ein wenig mehr; beim 20ten Abspielen ist nur noch Rauschen zu hören. Die Walzen wurden lange nicht mehr gebraucht. Sie zerfallen trotzdem. Denn sie stecken in Pappzylindern, die mit Baumwolle ausgekleidet sind. Das ist ein guter Nährboden für Schimmel. „Die Pilze zersetzen die Aufnahmen“, sagt Archivar Jürgen Mahrenholz.

Der Wissenschaftler hat das Archiv bereits so weit aufgebaut, dass Besucher im Namensregister am Computer aus Reden, Gedichten, Gesängen sowie Bekenntnissen berühmter oder berüchtigter Persönlichkeiten auswählen und, begleitet von Klang und Timbre der Zeitzeugen, in die Vergangenheit eintauchen können. Gebrauch von dem Archiv machen auch Sprachwissenschaftler. Sie finden hier die Bibelparabel vom verlorenen Sohn, aufgesagt in 40 verschiedenen „englischen Grafschaftsdialekten“. Einige davon sind heute ausgestorben, andere abgewandelt. Die Aufnahmen stammen von 1915. Auch Sprachproben von 50 deutschen Dialekten sind erhalten: darunter solche aus Gebieten, die heute zu Polen oder Russland gehören: „Pommersche“, „Oberijselsche“ und „sowjet-deutsche“ Sprachproben. „Berlinert“ hat man damals auch, dieser „Märkisch-Brandenburgische Dialekt“ klingt so, wie man ihn heute von entnervten Busfahrern der BVG zu hören bekommt.

„Das Lautarchiv ist eines der wichtigsten Schallarchive der Welt“, sagt Jochen Brüning. Doch auch der Direktor des Helmholtz-Zentrums in der Humboldtuniversität wird die Schließung wohl nicht verhindern. Es fehle an Geld. Bisher habe die VW-Stiftung die Arbeit seines wissenschaftlichen Mitarbeiters mitfinanziert. Diese will nun nicht mehr zahlen. Ob man andere Drittmittel bekomme, sei ungewiss, die Konkurrenz groß. Die Humboldt-Universität will nur eine Drittel-Stelle finanzieren. Doch die Einrichtung von „Splitterstellen“ lässt der Betriebsrat nicht zu. Mindestens eine halbe Stelle muss es sein. Dafür fehlen 20 000 Euro im Jahr. Deshalb schließt das Lautarchiv.

Dabei sollte es Teil des Humboldt-Forums werden, das im Schlossneubau dereinst Lust auf universitäre Forschung machen soll. Dafür sind die Hörproben wie geschaffen. Es gibt Lehrreiches von Albert Einstein oder Max Planck. Und es gibt Unterhaltsames: Aufzeichnungen des Ohrenphilologen Eduard Sievers zum Beispiel. Der hatte Lebensbeichten von Straftätern aufgenommen. Aus der Analyse der Stimmen sollten typische Profile von Kriminellen abgeleitet und bei der Verbrecherjagd eingesetzt werden. Ob der „Fassaden-Kletterer“ Fritz Wald ohrenphilologisch überführt wurde, ist nicht überliefert. Es ist aber unwahrscheinlich, denn der populäre Gentleman-Einbrecher weist den Vorwurf zurück, er sei ein Krimineller: „Ich war der Überzeugung, dass niemand durch Hände Arbeit sehr reich werden kann“, begründet Wald seine 20 Einbrüche, „und ich hielt einen Raub für gerechtfertigt, da ich auch Arbeit dafür leisten musste“. Auch habe er immer nur Menschen beraubt, über deren „Vermögensverhältnisse ich mich vorher erkundigt hatte.“ Schaden an Leib und Leben habe keines der wohlhabenden Opfer genommen.

Weitere Infos im Internet:

www.hu-berlin.de/lautarchiv

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