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Berlin: Keine Ruhe

Allein auf einer Bank am Schlachtensee: Du verweigerst dich der Welt, die Fußball guckt. Deutschland spielt – du trotzt der allgemeinen Aufregung.

Allein auf einer Bank am Schlachtensee: Du verweigerst dich der Welt, die Fußball guckt. Deutschland spielt – du trotzt der allgemeinen Aufregung. Die laute Fanmeile ist Lichtjahre entfernt. Lieber die ungewohnte Ruhe genießen, aufs Wasser starren, Schwäne, Enten und Blesshühner zählen. Sonst sind auch keine Lebewesen zu sehen. Du denkst wohlig an das wichtige und entscheidende Spiel, das gerade alle außer dir sehen. Der Uferweg, sonst gerammelt voll, ist verwaist. In einer halben Stunde kommen nur zwei Frauen vorbei, die joggen. Ihre Blicke auf den Mann auf der Bank zu dieser Zeit sind spöttisch und anerkennend zugleich. Du denkst an das Spiel, das dir gerade so egal ist. Radelst ins nahe Ausflugslokal. Um die Zeit war es noch nie so leer. Alle Plätze am Wasser sind frei. Hinten im Lokal brabbelt ein Fernseher. Du bemühst dich, wegzuhören, weil es doch nur um Fußball gehen kann und kriegst dennoch mit: Null zu Null! Na bitte, nichts versäumt, denkst du und fütterst die Spatzen mit den Resten einer Brezel. Schaust, warum auch immer, auf die Armbanduhr: Jetzt muss bald Halbzeit sein. Setzt dich wieder aufs Rad, rollst entspannt durch leere Straßen. Aufregen sollen sich andere. Fenster stehen offen, Radios und Fernsehgeräte melden nach draußen, dass die deutsche Mannschaft, wie es heißt, nicht zum Spiel findet. Schon läuten die frühen Abendglocken, und du fragst dich, wie viele andere fußballtrotzige Menschen jetzt wohl in die Kirche gehen. Aus einem offenen Fenster schreit plötzlich jemand so schmerzhaft auf, dass nur ein Tor für den Gegner gefallen sein kann. Plötzlich kommt das Rad nicht schnell genug voran. Du bist fast zu Hause, da trötet ein aufgeregtes Kind vom Balkon, dass der Ausgleich gefallen ist. Du schaffst es gerade noch rechtzeitig zum Fernseher, um die Verlängerung und das Elfmeterschießen mitzubekommen. Die herrliche Ruhe am einsamen See? Längst vergessen. Du zitterst und klebst am Bildschirm, jubelst mit. Und schwörst dir: So verrückt nach Freiheit vom Fußball bist du – zumindest bei dieser Weltmeisterschaft – bestimmt nicht noch einmal.

Christian van Lessen

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