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Bitte mal hinsetzen!

© Barbara Gindl/pa-dpa

Keine Standing Ovations: Richtig applaudieren beim Klassikkonzert

Ob Philharmonie oder Oper: Der letzte Ton klingt noch, da springen die ersten Applaus-Narzissten schon auf. Ein Plädoyer für differenzierte Beifallsbekundung.

Die Klatschpappe: In Stadien und Sporthallen gehört sie zur Grundausstattung. Früher grölten die Fans sich und ihr Team in Stimmung, heute haben sie dafür die Jubelhilfe aus gefaltetem Karton, die zwecks Kracherzeugung in die Handflächen geschlagen wird.

Berlins Klassikliebhaber kommen definitiv ohne derartige Enthusiasmus-Amplifikatoren aus. Der längste Applaus aller Zeiten, so ist es im Guinessbuch der Rekorde nachzulesen, wurde in Berlin gemessen, 1988 in der Deutschen Oper: 64 Minuten Jubel für Luciano Pavarotti nach einer „Liebestrank“-Aufführung. Orchester wie Solisten wissen die Begeisterungsfähigkeit des hiesigen Publikums zu schätzen: Das will sich mit- und hinreißen lassen, es liebt die ganz großen Gefühle, dargeboten von den ganz großen Ensembles. Das wäre ja auch in Ordnung, wäre da nur nicht dieser fiese Bazillus, der sich in den Sitzreihen der Musiktheater und Konzertsäle verbreitet: die Standing-Ovations-Sucht.

Eingeschleppt wurde der Erreger aus den Musicaltheatern

Eingeschleppt wurde der Erreger aus den Musicaltheatern. Dort geht schon lange keine Vorstellung ohne Aufrecht-Applaus mehr über die Bühne: Ob es sich um die Premiere handelt oder die 735. Repertoirevorstellung, am Ende stehen die Leute klatschend in den Reihen. Und nutzen damit eine edle Tradition ab, erklären eine für besondere Fälle reservierte Form der Ehrbezeugung zum Normalfall. Wenn in Hollywood bei der Oscar-Gala der Preis fürs Lebenswerk vergeben wird, ist das eine dieser raren Gelegenheiten, bei denen stehende Ovationen angebracht sind. Oder wenn ein Haus geschlossen wird, wie jüngst das Theater am Potsdamer Platz: Wer sich da erhebt, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen, den in die Arbeitslosigkeit entlassenen Darstellern und Bühnentechnikern sein Mitgefühl auszudrücken, der handelt recht und würdig.

Übertrieben dagegen ist es, aufzuspringen, nur weil es einem Pianisten gelungen ist, sämtliche in der Partitur vorgeschriebenen Noten auch tatsächlich zu spielen. Oder weil ein Orchester eine besonders ausufernde Sinfonie gemeistert hat. Wer in der enormen Konkurrenz des Berliner Musiklebens bestehen will, von dem werden ganz selbstverständlich Spitzenleistungen erwartet.

Zumal sich bei manchen der Stehaufmännchen im Publikum ein böser Verdacht aufdrängt: Könnte es sein, dass die vor allem auf sich selber aufmerksam machen wollen? Seht her, signalisiert der Applaus-Narzisst den Umsitzenden, was für ein feuriger Liebhaber der schönen Künste ich bin!

Das Gehuste, durch kein Taschentuch gedämpft lautstark vorgetragen, das Bravo-Gebrüll und Klatschen, kaum dass der letzte Ton verklungen ist, ganz gleich was Orchester und Solisten musikalisch und technisch geleistet haben: Da feiern sich Banausen und Ignoranten selbst.

schreibt NutzerIn wilhelm

Bald schnellen andere in die Höhe - weil sie sonst nichts mehr sehen

Leider finden sich zumeist schnell Nachahmer, die aus Unsicherheit meinen, das müsse man jetzt wohl tun, und damit weitere Zuschauer in die Senkrechte zwingen – weil sie schlicht nichts mehr sehen können. Als Freund der differenzierten Beifallsbekundung möchte man da am liebsten jene zwei Worte ins Auditorium rufen, die der Amerikaner MacNamara in Billy Wilders Film „Eins, zwei, drei“ seinen deutschen Angestellten entgegenschleudert, die es nicht lassen können, bei seinem Erscheinen hinter ihren Schreibtischen hochzuschnellen: „Sitzen machen!“

Den Künstlern übrigens tun die Jubel-Streber keinen Gefallen. Der Spruch vom Applaus, der das Brot des Künstlers sei, ist nämlich Quatsch. Erstens legen die Damen und Herren Interpreten durchaus Wert auf angemessene Bezahlung, und zweitens haben sie viel mehr von einem Publikum, das ihnen aufmerksam zuhört. Denn die Fähigkeit zur dauerhaften Konzentration auf lediglich eine Sache wird in der Smartphone-Gesellschaft zu einem immer wertvolleren Gut. Das macht Konzerte, bei denen die Ausführenden wie die Lauschenden wirklich zu einer Einheit verschmelzen, so beglückend.

Für Claudio Abbado, den feinfühligsten unter den Dirigenten-Weltstars, vollendete sich eine Interpretation erst mit der Stille nach dem Schlussakkord. Die für viele Konzertbesucher tatsächlich schwer auszuhalten ist. Wie oft wird der finale Zauber-Moment durch eine akustische eiaculatio praecox zerstört, einen vorlauten Bravo-Rufer. Und, achten Sie mal darauf: Derjenige, der da rücksichtslos losjubelt, ist dann garantiert auch der Erste, der von seinem Sitz aufspringt.

Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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