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Sanktionen gegen Sozialleistungsmissbrauch: Kindergeld kürzen – kein Problem

Welche Leistung kann gekürzt werden, wenn Eltern ihre Kinder nicht fördern? Der Jurist Prof. Witzsch hat das im Gutachten für den Tagesspiegel untersucht

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Wie kann der Staat sicherstellen, dass Sozialleistungen für Kinder und das Kindergeld den Adressaten in voller Höhe zugute kommen und nicht von den Eltern missbräuchlich ausgegeben werden? Darüber wird derzeit heftig diskutiert. Manche Reformvorschläge vertragen sich aber nicht mit dem Grundgesetz. Der Tagesspiegel bat deshalb den Staats- und Verwaltungsjuristen Prof. Günter Witzsch, Vorschläge und Ideen zu prüfen. Hier die Zusammenfassung des Gutachtens:

Welche staatlichen Hilfen für Kinder und Erwachsene schreibt das Grundgesetz vor?

Das Grundgesetz garantiert jedem Hilfsbedürftigen materielle Voraussetzungen, die für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind (Existenzminimum). Der Gesetzgeber muss die Höhe der Leistung an die aktuellen Lebensbedingungen anpassen. Welcher konkrete Hilfeanspruch mit welchen Mitteln zu befriedigen ist, steht nicht im Grundgesetz. Der Gesetzgeber hat einen Gestaltungsspielraum, besonders wenn es um Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht. Eine besondere Berechnungsmethode schreibt das Grundgesetz nicht vor, die Zuwendungen müssen aber in einem transparenten und sachgerechten Verfahren ermittelt werden, um den Bedarf realitätsgerecht festzustellen.

Darf die Grundversorgung für Kinder auch durch Sachleistung sichergestellt werden?

Ja. Die Sicherung des Existenzminimums ist nicht auf Geldleistungen beschränkt. Das steht seit 1975 im Sozialgesetzbuch und wurde vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt. Wenn Hilfebedürftige zum Beispiel nicht in der Lage sind, mit Geld wirtschaftlich umzugehen, können die finanziellen Zuwendungen durch Sachleistungen ersetzt werden. Der Gesetzgeber darf auch kinderspezifische Leistungen in Form von Ganztagsbetreuung, Lehrmitteln oder Schulverpflegung zur Verfügung stellen. Das den Kindern zustehende Sozialgeld (Regelsatz) darf um entsprechende geldwerte Leistungen gekürzt werden. Der Einwand, dass zum Beispiel Bildungsgutscheine stigmatisierend seien, ist verfassungsrechtlich nicht gedeckt. Zumal es in vielen deutschen Städten, auch in Berlin, bereits einen Sozialpass, Familienpass, Ferienpass usw. gibt. Allerdings muss sichergestellt sein, dass auch Sach- oder Dienstleistungen zielgerichtet bei den hilfsbedürftigen Kindern ankommen und nicht von den Erwachsenen für andere Zwecke missbraucht werden können.

Dürfen Hilfen für eine Familie nach oben begrenzt werden (holländisches Modell)?

Aus der Verpflichtung des Staates, die Menschenwürde positiv zu schützen, leitet sich in Deutschland ein individueller Leistungsanspruch jedes hilfsbedürftigen Bürgers ab. Eine pauschale Deckelung der staatlichen Zuwendung ab einer bestimmten Familiengröße (Kinderzahl) ist verfassungswidrig. Das gilt auch für eine zeitliche Befristung von Sozialleistungen, die in den USA weitverbreitet ist. Möglich wäre es, bei steigender Kinderzahl die Hilfen degressiv zu gestalten. Es müsste aber nachgewiesen werden, dass bestimmte Ausgaben pro Kopf bei einer großen Familie geringer ausfallen.

Darf die Kindergeld-Staffelung abgeschafft werden?

Das Grundgesetz spricht nicht dagegen. Frühere Kindergeldregelungen sahen eine Staffelung (mehr Geld ab dem dritten oder vierten Kind) nicht vor. Verfassungsrechtlich problematisch wäre es allerdings, eine Höchstgrenze einzuführen, also Kinder ab einer bestimmten Zahl nicht mehr zu berücksichtigen.

Dürfen Teile des Kindergelds in Leistungen für Bildung umgewidmet werden?

Wenn es bei der Sozialhilfe für Kinder möglich ist, Geldzahlungen durch gezielte Sach- und Dienstleistungen zu ersetzen, dann erst recht beim Kindergeld, das nicht der Sicherung des Existenzminimums dient, sondern dem Schutz der Familie (Lastenausgleich). Der Gesetzgeber hat dabei nämlich einen größeren Gestaltungsspielraum als bei den staatlichen Zuwendungen für Hilfsbedürftige. Grenzen gibt es trotzdem: So wäre eine 50-prozentige Umverteilung des Kindergelds auf Bildungsleistungen verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Und die Frage ist, wer zahlt? Denn Schule und Bildung sind Ländersache. Sozial- und Kindergeld kommen vom Bund, der auf diese Weise einen Teil der Kosten auf die Länder abschieben könnte, die damit sicher nicht einverstanden wären.

Wäre ein „Familienfonds“ mit dem Grundgesetz vereinbar?

Das Modell funktioniert so: Der Bund kürzt das Kindergeld um 20 Prozent, und diese Mittel fließen in einen Fonds, dessen Gelder entsprechend dem alten Kindergeldanspruch auf die Länder verteilt werden. Die Länder können damit wahlweise das Kindergeld auf die ursprüngliche Höhe aufstocken oder andere Projekte zur Förderung von Bildung und Familie bezahlen. Anders als die oben genannte Halbierung des Kindergelds dürfte eine Kürzung um 20 Prozent verfassungskonform sein. Vor allem dann, wenn dieses Geld der Zielgruppe Kind und Familie auf andere Weise zugute kommt. Die im Grundgesetz garantierten Kompetenzen der Länder würden auch nicht verletzt. Sie erhalten sogar zusätzlichen Gestaltungsspielraum durch die Verwaltung und Verteilung der Fondsmittel.

Darf die Verletzung elterlicher Fürsorgepflichten mit der Streichung oder Kürzung staatlicher Zuwendungen bestraft werden?

Das Sozialgesetzbuch erlaubt seit langem die Verweigerung oder Kürzung von Sozialleistungen, wenn die Bedürftigen bestimmte Mitwirkungspflichten verletzen. Demnach können auch Eltern, die staatliche Hilfen für ihre Kinder nicht zweckentsprechend verwenden, sanktioniert werden. Im schlimmsten Fall kann das Sorgerecht entzogen werden. Über die bestehenden Regelungen hinaus ist es dem Gesetzgeber auch erlaubt, Elternrechte und -pflichten neu zu bestimmen und die Sozialleistungen für Kinder zielgerichteter als bisher den eigentlichen Adressaten zukommen zu lassen.

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