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Berlin: Kindeswohl vor Elternrecht

Pflichtuntersuchungen hätten Jessica und anderen das Leben retten können Von Kurt Eberhard

Bürger und zunehmend auch die Politiker sind durch die Vernachlässigungstragödien der letzten Jahre übereinstimmend der Meinung, dass endlich etwas zum Schutz misshandelter und missbrauchter Kinder geschehen muss. Aber was? Es gibt eine Reihe interessanter und realisierbarer Vorschläge:

obligatorische kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen entweder durch niedergelassene Ärzte oder durch das Gesundheitsamt;

Vorziehen der Schulpflicht auf das 3. Lebensjahr (natürlich in kleinkindgemäßer Form) mit entsprechend früherer Datierung der Schuleignungsuntersuchung;

Bindung des Erziehungsgeldes an Erziehungsfähigkeit;

Finanzielle Honorierung der Teilnahme an freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen (Finanzierung notfalls aus Senkung des allgemeinen Kindergeldes);

Intensivere Ausübung des staatlichen Wächteramtes, z.B. durch entsprechende gesetzliche Auflagen an die Jugendämter und sonstige zuständige Behörden;

Wiedereinführung der aufsuchenden Schwangerschafts- und Säuglingsfürsorge;

Stärkere Betonung des Kinderschutzvorranges vor den Elternrechten durch gesetzliche Klarstellung.

Die Gegenargumente stammen teilweise aus echter Besorgnis und teilweise aus pseudoliberalistischen Abwehrmanövern. Wer argumentiert, dass die genannten Vorschläge gegen die Verfassungsrechte der Eltern verstoßen, sollte schnellstens die Zeit der großen Koalition für eine entsprechende Grundgesetzänderung nutzen. Wer geltend macht, dass die Vorschläge zu teuer sind, hat nicht die gewaltigen Kosten berücksichtigt, die der Volkswirtschaft aus der Traumatisierung der gequälten Kinder erwachsen. Wer überbordenden bürokratischen Aufwand an die Wand malt, hat den Aufwand ausgeblendet, der den Jugend-, Gesundheits-, Sozial- und Justizbehörden gegenwärtig durch die Verwaltung der Traumafolgen entsteht.

Alle Kritiker würden verstummen, wenn sie das unermessliche Leid eines einzigen vernachlässigten Kindes selbst erlebt hätten. Aus dem Pflegekinderwesen kommen die Reformvorschläge der Kinderschutzkonferenz, die Anfang September in Holzminden stattfand. Die Pflegefamilie hat sich als die sinnvollste und kostengünstigste Maßnahme zum Schutz betroffener Kinder erwiesen. Sie hat gegenüber ambulanten Hilfsangeboten den Vorteil, dass sie die Kinder nicht in den problematischen Familien belässt und gegenüber dem Heim den Vorteil, dass sie nicht nur den Schutz der Kinder, sondern durch die Herstellung liebevoller und dauerhafter familiärer Bindungen auch die Heilung ihrer Traumaschäden ermöglicht.

Im Übrigen unterstützt die Konferenz den Ruf nach kinderärztlichen Pflichtuntersuchungen. Jessica und andere Kinder würden noch leben, wenn diese Forderung bereits erfüllt wäre.

Der Autor arbeitet als Psychotherapeut und ist selbst als Pflege- und Heimkind aufgewachsen. Er ist Professor an der Staatlichen Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin.

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