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Kirchenasyl in Berlin-Kreuzberg: Die Heilig-Kreuz-Kirche - ein moralischer Multifunktionsraum

Sie sollten abgeschoben werden und kamen zu ihm: Pfarrer Jürgen Quandt in Berlin-Kreuzberg. Er nahm sie auf und führte damit das Kirchenasyl in Deutschland ein. Bis heute funktioniert das. Zuletzt mit den Flüchtlingen vom Brandenburger Tor. Über die schmale Grenze zwischen Staat und Schicksal.

In einer Niederlassung von Gottes Königreich sitzend, singt er jetzt, er singt seine Überzeugungen. Er singt klar und vernehmlich, und vor allem: so, dass andere, mit schwächer ausgeprägten Stimmen, sich an ihm festhalten können. So wie Jürgen Quandt gerade singt, handelt er auch.

Textsicher und unüberhörbar für die Umsitzenden schickt er Worte durch Tonfolgen. „Was unser Gott geschaffen hat,/ das will er auch erhalten“, Quandt wird zum Wegweiser durch Noten und Strophen, „darüber will er früh und spat/mit seiner Güte walten.“ Alles wird gut eines Tages, bedeutet das, es gibt Hoffnung, es ist das Basiswissen der Christenheit. Und alles wird gut, schon jetzt und hier, weil Quandt eben so ein beachtlicher Sänger ist und die weniger sicheren in den Stuhlreihen vor und hinter ihm durch das Lied navigiert: „In seinem ganzen Königreich /ist alles recht, ist alles gleich.“

Alles ist recht, jeder gleich. Hier, in diesem Haus, stimmt das seit langem. Hier konnten sich ein paar Stunden zuvor sogar vier Rechtsbrecher hinstellen und ihren Rechtsbruch bekunden, und sie stießen dabei als Erstes auf Wohlwollen. Hier hat der Pfarrer Jürgen Quandt vor 30 Jahren ein neues Verhältnis zum Rechtsbruch herzustellen versucht. Das Kirchenasyl wurde hier durch ihn in Deutschland eingeführt.

Asyl und Fürbitte

Es ist ein goldener Herbstmittag, und die Berliner Kirchengemeinde Heilig-Kreuz-Passion feiert einen Festgottesdienst. Eines ihrer beiden Gotteshäuser, die Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche, wird 125 Jahre alt. Das Fernsehen und der Bischof sind da, ein großer Teil der Gemeinde und Gäste von weither. Und es geht auch um das Thema Asyl. Es kommt in der Predigt des Bischofs vor und im anschließenden Fürbittegebet. Das ganze Land hat wieder damit zu tun, seit die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien und anderen Kriegsregionen steigt und neue Asylbewerberheime eingerichtet werden. Am Tag zuvor haben in Berlin-Hellersdorf Menschen demonstriert, die gegen ein solches Heim und seine Bewohner sind, im sächsischen Schneeberg war es am vorhergehenden Wochenende so weit. Die Demonstranten dort hatten Fackeln dabei.

Das Thema hat wieder Konjunktur, so wie es immer Konjunktur hatte, wenn Menschen aus fremden Ländern in einer Zahl nach Deutschland kamen, die die des Vorjahres übertraf. Oder wenn diese Menschen aus anderen Gründen wahrnehmbar wurden. Zum Beispiel, indem sie sich umbrachten.

Im Jahr 1983 stürzte sich der Türke Cemal Kemal Altun aus dem Fenster eines West-Berliner Gerichtsgebäudes. Er war nach dem Militärputsch aus seinem Land geflohen, als Mitglied einer linken Polit-Gruppierung musste er dort mit Schlimmem rechnen, vor dem Berliner Gericht ging es um seine Abschiebung.

Er wandelte sich zu einer Art Luther

Der Tod des Mannes wurde dann bemerkt im Land. Wolf Biermann schrieb ein Lied. „Er stürzte sich raus aus dem Fenster, im Verwaltungsgericht zu Berlin, so hat er sich selber gerettet, geselbstmordet haben sie ihn.“ Der Dichter Franz Xaver Kroetz schrieb ein Gedicht. „Du Staat, du deutscher, pass auf! ... Der zu uns kam, und der nichts wollte als bleiben dürfen ..., der sprang heute aus deinem Fenster. (...) Für mich hast du heute getötet, Staat.“ 5000 Menschen sollen beim Trauermarsch dabei gewesen sein. Quandt begann, über die Gültigkeit staatlicher Gesetze nachzudenken. Er wandelte sich vom Pfarrer zu einer Art Luther.

Er wog in Gedanken das Gesetz und das Evangelium ab, den von Martin Luther behaupteten Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Ordnung, und ein paar Wochen später standen drei Palästinenser-Familien vor seiner Tür, die in den Libanon abgeschoben werden sollten. Quandt ließ sie herein. Er übernahm damit mehr als Verantwortung. Kirchenmitarbeiter, Mitglieder der Gemeinde und wildfremde Berliner besorgten Lebensmittel, betreuten die Kinder und berieten die Erwachsenen in juristischen Fragen. Ein Lastwagen voller Matratzen fuhr vor. Der Staat blieb draußen.

Kirchenasyl hat Tradition

Kirchenasyl gibt es, seit es Gotteshäuser gibt. Es wurde in griechischen Tempeln gewährt, im römischen Reich, und im Lauf der europäischen Geschichte wurde ein von staatlichen Gesetzen garantiertes Recht daraus. Säkularisierung und Aufklärung wiederum stellten das zunehmend infrage, Europas Staaten schafften es im 18. und 19. Jahrhundert wieder ab. Juristisch gesehen ist es heute belanglos, ob ein Mensch Zuflucht in einer Turnhalle, auf dem Gästesofa einer Privatwohnung oder in einem Gotteshaus sucht. Kirchenasyl setzt allein auf die Hoffnung, dass der Staat die Schwelle in die Kirchen hinein schon nicht überschreiten wird.

Es geht dabei um nichts anderes, als Zeit zu gewinnen, um Fehler in einzelnen Asylverfahren zu finden und diese zu korrigieren. Nach Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche soll dies bei zwei Dritteln aller Fälle auch gelingen.

Quandt, Jahrgang 1944, in den 60er Jahren Student der Theologie, 1980 Pfarrer der Heilig-Kreuz-Gemeinde geworden und seit ein paar Jahren offiziell im Ruhestand, aber eben doch nicht zur Ruhe gekommen, steht jetzt auf und geht nach vorn. Er holt einen Zettel aus der Jacketttasche und liest vor: „Gütiger, barmherziger Gott, wir bringen vor dich das Elend der Flüchtlinge in dieser Welt. Wir bringen vor dich unsere Hartherzigkeit, gegen die Not von Flüchtlingen etwas zu tun.“ Man kann solche Sätze immer sagen. 1983 stimmten sie schon. Aber dann fährt Quandt fort: „Gib den Flüchtlingen Mut und Selbstbehauptungswillen, ihre Sache auch weiterhin zu vertreten.“ Flüchtlinge vertreten ihre Sache selbst. Das ist ziemlich neu.

Im September 2012 begannen 50 Flüchtlinge einen Protestmarsch von Bayern nach Berlin. Sie errichteten ein Zeltlager auf dem Kreuzberger Oranienplatz, sie traten am Brandenburger Tor in einen Hungerstreik. Sie forderten einen allgemeingültigen Abschiebestopp, die Unterbringung in Wohnungen statt in Heimen und die Abschaffung der sogenannten Residenzpflicht, die ihnen vorschreibt, ihre Meldeadresse nicht zu verlassen.

In diesem Oktober wiederholte sich das Ganze. Wieder waren Flüchtlinge unter Missachtung jener Residenzpflicht aus Bayern ans Brandenburger Tor gekommen und aßen nichts.

Es ist vielleicht ein bisschen schwer, zu verstehen, dass Menschen, die in Deutschland immerhin und zumindest vorübergehend eine Aufnahme finden, darüber hinaus Forderungen an die Gastgeber stellen und deren Gesetze – das Asylverfahrensgesetz und das Aufenthaltsgesetz – brechen. Es hinterlässt den Eindruck der Anmaßung. Es scheint eine große Portion Frechheit dazuzugehören, den Staat durch Hungern und das Besetzen eines seiner zentralen Plätze erpressen zu wollen.

Ein moralischer Multifunktionsraum

Vielleicht ist es aber auch anders. Vielleicht ist es für einige tatsächlich unaushaltbar schlimm, zwar eine Unterkunft und einigermaßen Ruhe im fremden Deutschland zu haben, dafür aber keine Perspektive, kein Recht auf Bewegungsfreiheit und nur ein eingeschränktes darauf, für den eigenen Lebensunterhalt selbst zu sorgen.

Quandt interessiert beides nicht. Es ist ihm völlig egal, ob diese Menschen anmaßend oder verzweifelt sind, gut oder schlecht. Quandt hilft erst einmal, und alles Weitere ist alles Weitere. Vor bald drei Jahrzehnten hat er einmal gesagt, er sei misstrauisch „gegenüber dem Argument, dass etwas, was auf gesetzlicher Grundlage geschehe, hinzunehmen sei, weil es eben gesetzlich sei. Gesetz und Ordnung sind kein Zweck in sich.“ So sieht er es, so sehen es auch Quandts Nachfolger in Heilig Kreuz.

Flucht als ziemlich alte Angelegenheit

Dagmar Apel hat seine Arbeit weitergeführt. Sie zitiert das Matthäus-Evangelium: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.“ Die ganze Bibel an sich sei ja ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Ständig gehe es darin um Völker und Menschen auf der Flucht und ihren Wunsch nach Aufnahme anderswo. Eine ziemlich alte Angelegenheit also. Peter Storck sagt: „Die Kirche ist ja dazu da, Gottes Wort zu hören und zu bewahren und immer wieder neu zu sagen.“

Die beiden, Apel und Storck, sind amtierende Pfarrer in Heilig Kreuz, sie haben dort angeknüpft, wo Quandt mit seiner Pensionierung im Jahr 2003 aufhörte. Sie haben Kranke aufgenommen, Arbeitslosen Arbeit gegeben und Obdachlose begraben, die Kirche ist die ganze Woche über aufgesperrt für jedermann. Sie machen ihre Gottesdienste hier und 100 Kulturveranstaltungen im Jahr. Die Heilig-Kreuz-Kirche ist schon längst keine althergebrachte Kirche mehr mit Kirchenbänken und Altar, sondern ein moralischer Multifunktionsraum. Sie hat sich verändert, weil sie ihre eigenen Regeln ernst nimmt.

Apel und Storck können aufs Wunderbarste Bibelstellen wiedergeben, sie kennen die historischen Bezüge ihrer Gemeinde, deren Mitglieder sich schon vor 150 Jahren um die Verlorenen hier im Viertel gekümmert haben, sie sagen von sich selber, dass sie „keine sozialen Berührungsängste“ haben. Apel sagt: „Es ist tröstlich, wenn man ein Glied in der Kette ist. Man hat etwas übergeben bekommen, und wenn man selber geht eines Tages, dann kommen wieder andere und nehmen das auf.“

Flüchtlinge stoßen auf offene Ohren

Aber wer ihnen gegenübersitzt und noch nicht ganz zufrieden ist mit diesen Begründungen dafür, warum nun ausgerechnet Heilig Kreuz sich so hervortut mit seiner Hinwendung zu den Heimatlosen, manche anderen Kirchgemeinden machen das ja anders, wer also danach fragt, ob das Ganze auch mit ihnen selbst zu tun haben könnte, der bekommt keine Antwort. Sie wäre viel zu naheliegend. Sie müssten das Wort Nächstenliebe sagen. Aber so pathetisch reden sie nicht, und außerdem würde auch das nur alles und gleichzeitig nichts erklären.

Apel nimmt noch einmal Anlauf: „Wir versuchen, Leuten eine Stimme zu geben, solange sie nicht selber sprechen können.“ Der erste Schritt dabei ist immer das Zuhören.

So war es dann auch folgerichtig, dass sie am Wochenende vor dem Kirchengeburtstag ein Anruf erreichte. Am Brandenburger Tor war es – vermittelt durch die evangelische Kirche und die Diakonie – Berlins Integrationssenatorin und einem SPD-Bundestagsabgeordneten gelungen, die hungernden Flüchtlinge davon zu überzeugen, den Platz zu verlassen und wieder mit dem Essen anzufangen. Nur, wo genau sollten sie hin, wo sollten sie essen? Der Abgeordnete telefonierte mit einer Juristin vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, die wiederum mit dem Migrationsbeauftragten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der rief Storck und Apel und Quandt an, und innerhalb einer Stunde war klar, dass die 25 Menschen vom Brandenburger Tor in einem Haus unterkommen können, das zur Heilig-Kreuz-Gemeinde gehört.

Das Haus steht an einer Kreuzberger Hauptverkehrsstraße, vor den Fenstern verläuft eine Hochbahntrasse der U-Bahn. Es ist so eine Art Kulturzentrum und Volkshochschule für Arme und Obdachlose, steht also keineswegs leer. Hergegeben hat es die Gemeinde trotzdem. Bis zum vorvergangenen Montag lebten die 25 vom Brandenburger Tor hier, sie schliefen in Schlafsäcken auf dem Estrichboden. Mittlerweile ist eine Unterkunft gefunden, in der sie mindestens bis Ende Januar bleiben können. Sie gehört einem Unternehmen, an dem die katholische Kirche beteiligt ist.

Und nun, am Festgottesdiensttag, stehen vier von ihnen hier in der Kirche. Drei junge Männer und eine junge Frau. Sie stellen sich vor. „Ich komme aus Bayern“, sagen sie, „mein Land ist Kongo.“ „Ich komme aus Bayern, mein Land ist Äthiopien.“ Die Festgemeinde schaut sie an und hört zu. Auch später, als einer der vier alle deutschen Polizisten zu Rassisten erklärt, stößt er zuerst einmal auf eines: auf offene Ohren.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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