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Musik ist ihr Leben. Marie-Louise Schneider (l.) und Ingeborg Allihn.

© Wolff

Kirchenmusik: Hört die vergessenen Lieder

Musikbegeisterte haben in Mitte über 500 Jahre lebendige Kirchenmusik aus Archiven, Bibliotheken, Registern und Koffern ausgegraben. Jetzt stellen sie die Werke vor.

Mit geschlossenen Augen kann man sie ganz schwach singen hören. Und sie im Geiste sehen, wie sie mit sittsamer Miene durch das heute leer gähnende gotische Portal der Klosterruine ziehen, die frommen Scholaren des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster. Von 1574 bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts mehrmals am Tag, von der Klosterstraße zur Petri- und zur Nikolaikirche. Die musikalisch gebildeten Schüler waren die Vorsänger der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin und Cölln – bei Gottesdiensten, Taufen, Trauungen, Beerdigungen.

Aber welche vergessenen Lieder haben sie gesungen? Welche Rolle spielte die Musik, die zu der Zeit – abgesehen vom Fürstenhof – immer Kirchenmusik war, im städtischen Leben? Und wie haben Kantoren und Organisten, die auch Musiklehrer und Komponisten waren, gelebt?

Diese Fragen haben die Kantorin der Marienkirche Marie-Louise Schneider so umgetrieben, dass sie 2007 die Musikwissenschaftlerin Ingeborg Allihn und andere Enthusiasten ins Boot geholt hat, um mehr als 500 Jahre Musikleben in Mitte auszugraben. Fündig wurden sie in Archiven, Bibliotheken, Kirchenregistern oder verstaubten Koffern auf Dachböden.

Ein lebendiger, musikalisch hochwertiger Reichtum sei dabei jenseits der bekannten Helden Kirchenlieddichter Paul Gerhardt und Kantor Johann Crüger von Sankt Nikolai zutage gekommen. „Melodiös, freudig, gut zu singen“, erzählen die beiden. Konkretes Ergebnis ist das Buch „Wie mit vollen Chören – 500 Jahre Kirchenmusik in Berlins historischer Mitte" (Ortus Musikverlag, 270 Seiten, 25 Euro), das Freitag in der zum Museum umgewidmeten Kirche im Nikolaiviertel vorgestellt wird. Und eine im kommenden Jahr fortgesetzte Konzertreihe, die Sonnabend nächster Woche im Rahmen des Chormusikfestivals Chorint in der Marienkirche am Alex beginnt.

Das reich bebilderte Buch ist kein dröges Werk für Spezialisten, sondern zeigt anschaulich, was für Melodien und Geschichten unter Asphalt und Beton der von den Zeitläuften pulverisierten alten Mitte liegen. Fallbeispiele zeichnen die teils abenteuerlichen Lebensläufe von Komponisten und Kantoren vom 16. Jahrhundert bis heute nach, inklusive Nazi- und Mauerzeit.

Viele davon waren seinerzeit Stars und weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt. So wie Otto Dienel, dessen „Te Deum“ beim Auftaktkonzert zu hören ist. Er war ab 1869 jahrzehntelang Organist der Marienkirche. Wenn er an Markttagen seine Wochenkonzerte orgelte, war die Kirche so pickepacke voll, dass die Polizei sie sperren musste.

Oder Eduard Grell, der „Meister des Kirchengesangs“, vom Magistrat verewigt durch die Grellstraße in Prenzlauer Berg. Als Organist an Sankt Nikolai, Lehrer am Grauen Kloster und am Königlichen Institut für Kirchenmusik und Direktor der Sing-Akademie ist Grell eine Lichtgestalt der Berliner Musikgeschichte.

„Vielen Dank, wir nehmen den Grell raus“, sagt Marie-Louise Schneider zu den nach Noten kramenden Frauen und Männern der Marienkantorei. Gerade haben sie die abendliche Chorprobe mit Strecken, Atmen und Einsingen begonnen. Jetzt ist Grells „Te Deum Laudamus“ dran. Zauberhaft ist dieser Sommerabend im Kirchenforum Stadtmitte in der Klosterstraße gleich neben der Parochialkirche. Vom verwunschenen Kirchhof vor dem Fenster aus lauscht einer der wiederentdeckten Musiker: Ludwig Thiele. Ein Organist, von dem man sagt, dass er mit den Füßen so schnell spielen konnte wie mit den Händen, weiß Ingeborg Allihn.

Der Grell ist bei der Probe auch ohne Orchester und Orgel klangvoll. „Schön glockig ansingen“, ermahnt die druckvoll dirigierende Bischofskirchenkantorin ihre Truppe. Jahrhunderte vorher litten ihre Kollegen noch unter dem geringen Prestige des Amtes. Erst seit der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt ein Berliner Kantor was, obwohl der Kommunikationsraum Kirche mit der Musik als Transportmittel die städtische Entwicklung stark prägte. Ein informativer Stadtspaziergang, der dem Buch beiliegt, hilft bei der stadtgeschichtlichen Spurensuche.

Wieder draußen, geht der wiederentdeckte Gesang mit: Tönt in die Abendstille, über den Friedhof, die alte Stadtmauer entlang, fast bis zur Klosterruine. Mitten in Berlin und doch aus der Zeit gefallen.

Buchvorstellung: Nikolaikirche, 18.6., 18 Uhr, Eintritt frei, Konzertreihenauftakt: Marienkirche, 26.6., 18.30 Uhr, 15 Euro

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