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Orange ist die Farbe des Kirchentags in Berlin.

© Britta Pedersen/dpa

Kirchentag in Berlin: Kirche ist Wurst

Hier die Gläubigen, da die Stadt: Das Fest der Christen färbt die Straßen orange – aber nur in Teilen. Ein Spaziergang durch eine Freiluftbühne.

Eine Frau grau meliert, ein Mann schwarzbärtig – beide ziehen beim Betreten des U-Bahnwaggons konsterniert die Augenbrauen hoch. Wie jetzt? Am Feiertag schon morgens acht Uhr kein Sitzplatz mehr für mich? Gibt’s doch gar nicht! Beide bremsen den stracksen Ich-arbeite-auch-Himmelfahrt-Schritt und beziehen kopfschüttelnd einen Stehplatz am Rand. Schon am Bahnhof Hermannplatz ist alles von Christen okkupiert, die Richtung Messegelände streben.

Ein Bettler ist da flexibler. Sogleich stellt er sich auf das qua Glauben zu tätiger Nächstenliebe verpflichtete Publikum ein. Ein ums andere Mal murmelt er „Gott sei mit dir“, als er milde Gaben abkassiert. Der heilige Schnorrer lebt ganz ungeniert vom Bibelwort „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“.

Christen in der Großstadt, zumal in einer säkularen wie Berlin, sind im Alltag sonst ja eine eine unsichtbare Spezies. Was einer glaubt, ist keiner Stirn anzusehen. Und wenn jeder, der ein Talmikreuz um den Hals baumeln hat, gläubig wäre, wären die Gotteshäuser knüppelvoll.

Nun hat der Kirchentag sie mit einem Schlag sichtbar gemacht. Und – na so was – Jesu Jünger sehen wie Eishockeyfans aus. Schon am Mittwochabend beim Eröffnungsgottesdienst vor dem Brandenburger Tor tragen die Gläubigen ihren orangefarbenen Kirchentagsschal nicht einfach nur brav um den Hals. Nein, sie verknüpfen sie mit bei vorherigen Kirchentagen erworbenen Tüchern zu vielfarbigen, flatternden Kutten. Oder sie binden sich die mit der Losung „Du siehst mich“ bedruckten Stoffbahnen ostentativ als Stirnband um.

Diese Menschen sind nicht einfach nur Gläubige. Einige sind sich lautstark um den Hals fallende Schlachtenbummler, andere verwegene Piraten und wieder andere, die das Banner besonders kämpferisch tragen, ja sogar Krieger des Herrn. Angetan mit Outdoor-Klamotten und festem Schuhwerk, scheinen sie in der eingeschworenen Gemeinschaft zum sofortigen Aufbruch bereit.

Es ist ein Feuer, das Mittelalt und Jung ergreift

Zumindest mit der den Katholizismus latent um seine Schauwerte beneidenden protestantischen Bescheidenheit ist bis Sonntag Schluss. Orange dient ab sofort nicht nur der Berliner Stadtreinigung als Signalfarbe: Wir sind viele, wir sind orange und wir sind hier!

Es ist ein Feuer, das Mittelalt und Jung ergreift. Udo Vincek-Olsen, 57, ist aus Hannover angereist. Er sei Mitglied, aber kein regelmäßiger Kirchgänger, sagt der mit Klapphocker bewehrte Jurist. „Ein Kirchentag ist attraktiver, weil Kirche hier anders, offener, fröhlicher ist.“ Sonst rausche das Thema Religion so in den Medien vorbei. „Hier nehme ich mir die Zeit, anderen Leuten richtig zuzuhören.“ Sein Programmheft ist dicht an dicht mit Zetteln beklebt.

Lena Stark aus Mainz wird längst nicht so viel in der Stadt herumkommen. Dabei ist sie zum ersten Mal in Berlin. Die 20 Jahre alte Erzieherin mit den pinken Haaren gehört zu den Heerscharen von ehrenamtlichen Helfern und hält am Brandenburger Tor die Rettungsgasse zur Bühne frei. Warum sie das tut? „Wegen der Gemeinschaft. Und weil mich die Vielfalt der Sprachen und Gesichter fasziniert.“

Die ist hier beim poppigen, betont niedrigschwelligen spirituellen Angebot namens „Gottesdienst in leichter Sprache und ökumenischer Weite“ größer. Afrikaner, Asiaten, Katholiken, Orthodoxe – alles da.

Nur Berliner sind nicht aufzutreiben

Auch Menschen aus Goslar, Delmenhorst, Oldenburg und Montréal. Sogar der Friedensaktivist und Holocaust-Überlebende Reuven Moskovitz ist mit seinen 88 Jahren aus Jerusalem angereist und wirbt per Pappschild für die die „Befreiung der Palästinenser“.

Nur Berliner sind nicht aufzutreiben. Ja, schert es die heidnische Stadt denn kein bisschen, was in ihrer Mitte geschieht? Wollen ihre Bewohner denn nicht sehen, wie das Breakdance-Duo Bboys unter den milden Blicken von Geistlichen aus aller Herren Ländern vorne am Altar „Kyrie“ und „Gloria“ vertanzt?

Kaum ist der Gottesdienst aus. Kaum beginnt der „Abend der Begegnung“, das Freiluftfest, mit dem sich die Gläubigen auch den Straßenraum untertan machen, klärt sich die Sache auf. Alle in Brandenburg, Berlin und der schlesischen Oberlausitz verfügbaren Evangelen werden als Handlanger an den Futterständen zwischen Platz der Republik, Brandenburger Tor, Gendarmenmarkt und S-Bahnhof Friedrichstraße gebraucht. Untätig bei Gottesdiensten herumstehen, beten und Choräle singen, geht gar nicht, wenn mehr als hunderttausend Mäuler zu stopfen sind. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wurst muss schließlich auch noch drauf. Ja, ein Alien, das auf zufälligem Erd-Besuch in Berlin Station macht, kann in Unkenntnis christlicher Riten in den nächsten Stunden nur zu einem Ergebnis kommen: Kirche ist Wurst. Und die sind alle verschieden.

Als karitative Einnahmequelle aber ist jede der Würste erlaubt

Gleich gegenüber dem Holocaust-Mahnmal verkauft die Evangelische Kirchengemeinde aus dem Spreewald-Städtchen „Calauer Stiefelwurst“, die als geistliche Nahrung genauso wenig taugt wie die Bratwurst am Stand des Diakonissenhauses Teltow-Lehnin in der 20 Minuten Fußweg weiter gelegenen Neustädtischen Kirchstraße. Als karitative Einnahmequelle aber ist jede der Würste erlaubt. Und der in all seiner Straßenfestfolklore auch herzlich banale Abend hat da große Momente, wo ein distinguierter Herr am Stand der Kirchengemeinde Nikolassee angesichts des selbst geschmierten Überangebots von Leberwurststullen die Schürze strafft und zwei zögernde Passantinnen anruft. „Willkommen! Greifen Sie zu! Es lohnt sich!“ Und zwar für die Hungerhilfe in Somalia. Dahin gehen die Standeinnahmen zu hundert Prozent.

Nämliches darf man von den Einnahmen des Spargelhofs Buschmann-Winkelmann oder den überall präsenten Florida-Eis-Buden nicht annehmen. Klar, auf dem Kirchentag wird nicht nur ehrenamtlich Kasse gemacht.

„Umarmung gefällig?“, tönt plötzlich ein Ruf ans Ohr und schon führt ein reflexartiges Nicken direkt in die zarten Arme von Linnea Pengel, die irgendwo hinter den Ministergärten steht. Sie lebt in Adlershof, ist 15, barfüßig und setzt mit einem ebenfalls barfüßigen Freund von der evangelische Jugend „ganz ohne Schnaps“ ihre Schnapsidee der Gratis-Umarmungen um. „Das ist gelebte Nächstenliebe“, sagt sie überzeugt und drückt noch einen Sticker in die Hand, der nach ihren Worten für Flüchtlingsintegration wirbt. „Menschen: gleich wichtig, würdig, berechtigt“, steht drauf.

Soziale oder politische Anliegen, die haben gerade die Jungen – und das sind viele – hier auf den Lippen. Deutlich schwerer tun sie sich, ihren Glauben, also die spirituelle Dimension ihres Kirchentagsbesuchs zu beschreiben. „Ich glaube, dass da noch etwas ist“ oder „Unser Dasein braucht einen Sinn, deswegen glaube ich“, so lauten typische Antworten. Das klingt nach Menschen, die auf der Suche sind, weniger nach gewachsener Volksfrömmigkeit.

Zwei Abendspaziergänger betrachten staunend das Trachtenfest

Die verströmt – gepaart mit viel touristischem Selbstvermarktungstalent – dafür die kleine Prozession aus sorbischen Osterreitern und Trachtenträgerinnen, die auf der Ebertstraße mit mitgeführter Kirchenglocke paradiert. Zwei Abendspaziergänger betrachten staunend das Trachtenfest, das Kirchentag heißt. Christen sind sie keine, vom Fest gestört fühlen sie sich nicht. „Solange die nichts kaputtmachen.“ Berliner Mutterwitz trifft großstädtische Lässigkeit. Das ist die unbeeindruckte Haltung, mit der die Stadt Kirchentage ebenso vorbeiziehen lässt wie Pokalendspiele. Alltag und Ereignis, sie finden auf verschiedenen Planeten statt.

Das ist auch im Zentrum des Kirchentags, dem Messegelände am Funkturm, augenfällig. Die Glaubensangebote auf dem „Markt der Möglichkeiten“ sind unüberschaubar. Die „Kabarettistische Bibelarbeit“ mit dem Mitgründer der Kölner „Stunk-Sitzung“ Didi Jünemann am Donnerstag in Halle 21a ist quietschfidel, doch sie wirkt nicht in die Stadt. Anders als das Christentum. Die Kirche ist der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland, erstaunt Jünemann die volle Halle. Und der Tourismus sei ja sogar aus der Religion entstanden. Früher habe es nur zwei Möglichkeiten gegeben, von zu Hause wegzukommen. „In den Krieg ziehen oder Pilgerfahrt“. Na bitte, Religion ist doch relevant in Berlin. Und sei es als Tourismusfaktor.

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