zum Hauptinhalt

Berlin: Klaus Holtfreter (Geb 1941)

Man nimmt die Dinge, wie sie sind, und nimmt sie nicht zu ernst.

In den letzten Jahren bekam er viele Anrufe von Radiojournalisten, die ein Feature oder eine Reportage über ehemalige Bautzen-Häftlinge machen wollten. „Was hab ich schon dazu zu sagen“, murmelte Klaus Holtfreter dann in den Hörer.

Dabei hat er aus seiner Zeit im „Gelben Elend“ nie ein Geheimnis gemacht. Er war nur denkbar ungeeignet, dies Elend zu verkörpern. Denn er war doch Mozart. So wurde er von seinen Freunden genannt, wegen seines feinen Gehörs und auch ein wenig deshalb, weil er so zart sein konnte zu den Frauen. Und Eisenbahner war er außerdem und Rostocker Werftarbeiterkind und Urahn von Seeräubern. Also einer, der sich seine Freiheit zu nehmen wusste, und der seine Biografie niemals mit „Häftling“ überschrieben hätte.

Schon in Schulzeiten entschied er sich gegen die Rolle des Opfers. Während seine Kameraden über die Lehrer und den Unterricht schimpften, ihren Frust in kleine Papierkugeln knüllten, verbrachte Klaus seine Vormittage auf dem Bahnhof. Die Mechanik der Lokomotiven, das Verhalten der Passagiere, hier gab es viel Interessanteres zu lernen als in der Schule. Die empörten Briefe seiner Lehrer fischte er aus dem Briefkasten und stopfte sie in den Ofen. Die Papiere anzuzünden, war ihm dann allerdings zu viel der Mühe. Und als der Winter kam, und dem Vater die Lehrerworte in die klammen Hände fielen, wurde beschlossen, dass Klaus sofort Eisenbahner werden solle.

Dem war es recht. Bei der Reichsbahn wurde er sowohl in einem echten Handwerk unterrichtet als auch in der Kunst des rechten Trinkens, beides allemal besser als Schule, wenn es auch niemals an seine wahre Leidenschaft heranreichen konnte: Die Musik. „Ich sehe mich als 12-jähriges Mädchen nach Hause kommen“, schreibt seine jüngere Schwester in einem Brief an ihn, „in der Wohnung war es dunkel, aber die gewaltigen Klänge einer Sinfonie erfüllten das Zimmer. Mittendrin standest du und dirigiertest das unsichtbare Orchester, nur die Spitze des Taktstockes glühte im Dunkeln, du hattest dir einen Stock mit Leuchtfarbe besorgt.“

So lange seine Schallplatten mit klassischer Musik sich drehen durften, war Klaus Holtfreter ein glücklicher Mensch. Dass seine Freunde, darunter viele angehende Künstler, die DDR verändern wollten, konnte er nachvollziehen, doch lag ihm selbst dieser Ehrgeiz fern. Man nimmt die Dinge, wie sie sind, und nimmt sie nicht zu ernst, so lebte er, und dafür wurde er von vielen geliebt. Nie wären seine Freunde, die ihn oft auf seinem abgelegenen Stellwerk besuchten, auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet Mozart es zu einem „politischen Gefangenen“ bringen würde.

19 Jahre war er alt, als er verhaftet wurde. Er habe „Hetzschriften gegen den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht“ verteilt und „einen Bürger nach West-Berlin begleitet“, lautete die Anklage.

Er hatte nie „Hetzschriften“ angefertigt. Und dass er mit einem Freund nach West-Berlin gefahren war, um sich dort Filme anzuschauen, durfte doch kein Grund sein, ihn einzusperren! Klaus verabscheute Streitereien, aber hier sah er sich ausnahmsweise genötigt, in die Diskussion einzusteigen. „Jetzt ist es schon so weit“, schimpfte er vor Gericht, „dass die Gerichte der DDR unschuldige Menschen zu Verbrechern machen!“ Dafür bekam „Schiene“, wie er in den Stasi-Protokollen genannt wird, auf seine drei Jahre noch ein halbes Jahr drauf.

In Bautzen bastelte er kleine Dreingaben für die Kinderzeitschrift „Frösi“ – „Fröhlich sein und singen“. Eine Lage, die dazu einlud, verrückt zu werden oder zu verzweifeln. Stattdessen errichtete er für sich und seine Mitgefangenen eine Gegenwelt, in die sie sich allabendlich flüchteten: Klaus Holtfreters heimliches Lichtspieltheater. Sobald es ruhig wurde in dem Kellergewölbe, das ihm zusammen mit dutzenden anderen Männern als Schlafstätte diente, begann Klaus zu erzählen. War es früher der Taktstock, der in der Dunkelheit glühte, so waren es jetzt seine Worte. Er erzählte alle Kinofilme nach, die er gesehen hatte, und als die Monate verstrichen, begann er sich eigene Filme auszudenken. So brachte er nicht nur Licht in den Keller, sondern gewann außerdem noch einen Bewunderer von hünenhafter Statur, der den jungen und hübschen Mozart vor Übergriffen schützte.

Das Kino und der Freund bewirkten, dass aus der Haft kein verängstigt oder verzweifelt wirkendes Zerrbild Klaus Holtfreters entlassen wurde, sondern der Schallplattendirigent, Geschichtenerzähler und Frauenliebhaber, der hineingegangen war, wenn auch um einige Erfahrungen reicher. Diejenigen, die in ihm jetzt einen tragischen Helden oder einen erklärten Regimegegner zu finden hofften, wurden enttäuscht. „Bautzen war meine Universität“, betonte er, „so viele kluge Menschen saßen da.“

Ost gegen West einzuwechseln, auszureisen, kam ihm nicht in den Sinn. Da zu bleiben bedeutete für ihn noch lange nicht Unterwerfung, im Gegenteil. Er ging ganz einfach dahin, wo er glücklich war: In Konzerte und Opern oder in die Kneipen und Theaterkantinen Ost-Berlins, wo er sich mit seinen Freunden traf. Dort setzte er sein Eisenbahnergehalt in unvergessliche Nächte um. Mit langem Haar, blau leuchtenden Augen, großer Himmelfahrtsnase, Zigarette und einem Charme, der von Schnaps zu Schnaps sprühender wurde, saß er da und erinnerte an Schwejk.

Er wusste, dass er belauscht und beobachtet wurde. Doch das Einzige, wovon er sich ernsthaft beeindrucken ließ, war seine Sehnsucht, und die führte ihn ausgerechnet zu Jane nach Groß-Ziethen: Grenzgebiet! Verschwörung! Fluchtgefahr! Wer ins Grenzgebiet wollte, musste einen Besuchsschein beantragen. Die Bewilligung, wenn sie denn überhaupt erteilt wurde, konnte Wochen dauern. „Sag, dass wir verlobt sind“, flüsterte Jane, als Mozart, der sich sein Verlangen nicht hatte bewilligen lassen, aus dem Liebesnest abgeführt wurde. Er folgte ihrem Rat. Doch wenn Klaus Holtfreter nicht noch einmal mehrere Jahre zwischen klugen Männern verbringen wollte, musste er seine unschuldigen Absichten beweisen. Also fand elf Wochen nach dem ersten Kuss die Hochzeit statt.

So wurde aus Klaus Holtfreter, dem eifrigen Empfänger von Blumen, Gedichten und Briefchen, ein Ehemann. Um seine Freiheit musste er nicht fürchten, denn Jane hielt von Treueschwüren ebenso wenig wie er. Dem Liebestaumel unter den Groß-Ziethener Apfelbäumen, auf die die Bewohner aus den oberen Stockwerken von Gropiusstadt neidisch herunterblickten, stand also nichts weiter im Wege – als neue Verordnungen: Die „Wehrunwürdigkeit“ der „politischen Häftlinge“ wurde aufgehoben, Mozart musste zur Armee. Er rächte sich, indem er den flaumbärtigen Jungs auf seiner Stube die Schönheit von Jane so überzeugend schilderte, dass die ihr eine Uniform zuschmuggelten. So kam der Tag, an dem Jane Holtfreter die Treppe der Kaserne erklomm, das lange Haar unter der Soldatenmütze verborgen, auf jeder Etage den Unteroffizier korrekt grüßend. Im dritten Stock fiel sie in Mozarts Arme und tröstete die Jungs mit einer Flasche Goldbrand. „Glauben Sie nicht, wir hätten nichts gemerkt“, bekam Klaus später zu hören. Es war nur deshalb nichts gemeldet worden, weil die gesamte Kompanie sich vor den Folgen dieser Ungeheuerlichkeit fürchtete.

Die Wende nahm er hin, ohne sich auf die Bitten seiner Freunde, sich politisch zu engagieren, einzulassen. Er fürchtete alle Parteien, Verbände und Organisationen, mit einer Ausnahme: Union, der Fußballclub.

Jane verlor ihre Arbeit. Auch Klaus wurde von der Deutschen Bahn nicht übernommen. Er kam bei einer Reinigungsfirma unter. Ein Abstieg? Das war nicht die Kategorie, in der Klaus dachte. Er dachte in Musik, und die spielte aufregender denn je. Es gab doch jetzt das Internet. Da konnte er der ganzen Welt ihre Klassiksendungen ablauschen, großen Premieren und Uraufführungen beiwohnen, musikalische Experimente verfolgen. Er wusste jeden Musikfetzen, der von irgendwoher klang, einzuordnen, den Komponisten, den Dirigenten und das Orchester. Jeden Abend lud er sich ein Musikprogramm auf seinen iPod, das er am nächsten Tag abhörte, während er die Treppenhäuser scheuerte.

Der Chef der Reinigungsfirma war so von ihm beeindruckt, dass er dem inzwischen 65-jährigen Klaus Holtfreter eine Festanstellung anbot. Doch da hatte Mozart, der dies Angebot gerne angenommen hätte, gerade die Diagnose Lungenkrebs erfahren. Wenige Tage vor seinem Tod winkte er Jane an sein Bett und sang ihr leise die Bach-Kantante „Es ist genug“ ins Ohr. Anne Jelena Schulte

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false