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Berlin: Klaus Meyer (Geb. 1928)

Der Zeitzeuge in ihm bewahrt ihn als Historiker vor der Fremdheit.

Es ist die dritte Nacht ohne Schlaf, der dritte Tag, ohne etwas gegessen zu haben. Wünsdorf, dreißig Kilometer hinter Berlin. Vor ein paar Stunden haben sie sich hier noch eingegraben, denn die SS sagte – und es klang fast beruhigend: „Ihr sollt hier nur die paar russischen Panzer aufhalten, die gerade durchgebrochen sind!“ Aber da kam keiner. Also weitermarschieren. Sein Freund und er laufen an der Spitze der Kompanie, als sie links und rechts in den Chausseegraben springen müssen. „Sichern nach vorn!“, lautet der Befehl. Beide schlafen augenblicklich ein. Steinchenwürfe wecken sie. Das ist der Leutnant. Er zischt etwas von Kriegsgericht. Kriegsgericht? Wahrscheinlich ist es ohnehin ihre letzte Nacht. Man kann also doch schlafen in letzten Nächten. So ist der Mensch. Und gerade eben war noch Ostern.

Klaus Meyer ist siebzehn Jahre alt. Sie laufen weiter durch die Dunkelheit, die Angst kommt wieder. Wie blau der Himmel war gestern über Wünsdorf, das wird er immer wissen. Was macht er, der Beamtensohn aus Hamburg, der Abiturient, auf dieser Straße, dreißig Kilometer hinter Berlin?

Am Ostermontag, noch beim Reichsarbeitsdienst, war er mit den anderen in die Kantine gerufen worden, um einen Führerbefehl zu hören: Aus allen RAD-Abteilungen sind sofort Infanteriedivisionen aufzustellen! Wer dem Befehl freiwillig folgen will, soll vortreten. Wie ein Mann trat die ganze Abteilung vor. Der Himmel über Wünsdorf war wirklich sehr blau am 20. April 1945.

Morgens um sechs erreichen sie Kummersdorf und einen Hauptmann. Wir sind jetzt von den Russen eingeschlossen, sagt der Hauptmann. Also wieder eingraben, die russischen Panzer abschießen und durchbrechen! Um sieben Uhr sitzen zehn Mann in fünf Löchern, davor ein Stück Wiese, dann der Wald, aus dem die Russen kommen müssen. Angst. Um 10 Uhr 30 die ersten Flachbahngeschosse. Die hört man erst, wenn sie schon eingeschlagen sind. Dann Artillerie-Werfer, die „Stalinorgeln“. Sie schießen zurück, ins Nichts, weil ihre Angst eine Betätigung braucht. Alles ringsum fliegt in die Luft. Dann, gegen 14 Uhr: russische Stimmen, von hinten. Wieso von hinten? Klaus Meyer sieht zwei russische Soldaten auf sein Schützenloch zukommen. Sein Denken setzt aus. Er wird es auch später nicht erklären können, aber er schießt das ganze Magazin seines Maschinengewehrs leer. Die Russen überleben und prügeln ihn aus dem Loch heraus, denn niemals hätte er es freiwillig verlassen.

Das ist seine erste Begegnung mit dem Volk, dem er ein ganzes Wissenschaftlerleben widmen wird. Klaus Meyer, der spätere Osteuropawissenschaftler in West-Berlin, der Historiker mitten im Kalten Krieg. Das Land seines Interesses ist Feindesland.

Der größte Feind des Historikers, weiß jeder Historiker, ist der Zeitzeuge. Denn das Erleben ist die niedrigste Stufe der Erkenntnis, wenn es denn überhaupt eine ist.

Nichts könnte dem siebzehnjährigen Zeitzeugen an jenem 21. April gleichgültiger sein als die Stufen der Erkenntnis. Obwohl die Gedanken wie Splitter in sein benommenes Hirn eindringen und immer dort bleiben werden und neue Gedanken bilden. Innerhalb von vier Stunden sind sechzig Mann der einhundert seiner Kompanie gefallen, alle siebzehn Jahre alt wie er. Und die Russen! Sie haben ihn am Leben gelassen vorhin, als er blind um sich schoss. Es gibt Abendbrot, nach sechzig Stunden die erste warme Mahlzeit. Bei den Russen.

Er versucht sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er nun Kriegsgefangener der Roten Armee ist. Vielleicht erwacht in diesen Stunden der Historiker in ihm, das kühl beobachtende Zweit-Ich, während sein Erst-Ich, das Zeitzeugen-Ich, ab sofort und mehr als zwei Jahre lang nur noch eine Aufgabe kennen wird: Überleben. Und immer wieder das Erstaunen. Etwa über das Eingreifen eines Offiziers, als ein russischer Soldat einem Deutschen die Stiefel ausziehen will. Ich muss das notieren, denkt er, mit Uhrzeit und allen Details.

Im Mai sieht er den großen Fluss zum ersten Mal, so groß, wie er noch nie einen gesehen hat. Die Wolga. Das Sägewerk, das die Kriegsgefangenen wieder aufbauen, liegt am Steilufer. Überleben bedeutet nun auch, nicht in den Fluss zu fallen beim Zerteilen der riesigen Holzflöße, die viele Baumstämme breit und bis zu zehn Stamm-Lagen tief sind. Ohne seinen Vorarbeiter, einen alten Russen, hätte Klaus Meyer das nicht geschafft. Die Flöße kommen von Norden, und in ihrer Mitte steht jedes Mal eine kleine Holzhütte für die Flößer auf dem reißenden Fluss. Beim Anblick dieser riesigen Nichtschiffe meint Klaus Meyer etwas von Russland zu verstehen. Er findet später bei Maxim Gorki wieder, was er hier sieht. Die Wolga wird zur Vertrauten, er kennt bald ihre Morgennebel, ihre tückischen Schaumkronen, den Sonnenuntergang über dem Fluss. Oder ist sie eine Hungerphantasie? 500 Gramm Brot täglich, die Russen bekommen kaum mehr. Hunger ist der Hauptgedanke eines jeden Tages.

Im Sommer 1945 tritt er im Krankenhaus von Saratow zum täglichen Frühsport an. Wer noch aufstehen kann, ungeachtet der Ödeme in den Beinen, ungeachtet der Ruhr, macht Frühsport. Und jeden Morgen beim Kniebeugen wird der „Schüdderump“ vorbei zum Friedhof gezogen. Darauf liegen die Kameraden, die über Nacht gestorben sind.

Dann friert die Wolga. Sein erster russischer Winter findet den Überlebenden des Sägewerks und des Krankenhauses im Zementwerk „Bolschewik“. Ab minus 40 Grad wird nicht mehr gearbeitet, aber meist werden es nur minus 39. Klaus Meyer braucht dringend „Zuschläge“ zu seinen 500 Gramm Brot. Wenn er ein Musikinstrument spielen würde! Oder Maler wäre, der den russischen Offizieren nicht nur die Unterkünfte streichen, sondern auch ihre Frauen in Göttinnen verwandeln könnte. Oder Friseur. Friseure haben es ohnehin am besten. Aber wie soll sich ein künftiger Professor, Spezialgebiet: 19. Jahrhundert und russisches Bildungswesen, im Lager ernähren? Im „Politbüro“?

Das „Politbüro“ ist für „Umerziehung“, Agitation und Propaganda zuständig und ein kompletter Versager auf allen drei Gebieten. Obwohl es Mitarbeiter wie Popow hat, einen schwindsüchtigen Erzstalinisten im letzten Stadium mit todesgefurchten Wangen und zukunftsglühenden Augen. Der junge Meyer hat „eine vollkommene Hochachtung“ vor ihm, denn er lebt und stirbt ihm vor, was Intellektuelle immer beeindruckt: was der Geist über einen Körper vermag – auch wenn Popows Körper schließlich doch das letzte Wort behält. Meyer wird Wandzeitungsredakteur, er muss eine bereits ins Deutsche übersetzte Rede des Außenministers Molotow abschreiben. Meyer verbessert sie stilistisch ein wenig – sollte ein Außenminister sich derart miserabel ausdrücken? – und wundert sich umso mehr, dass sein Beitrag nicht an der Wandzeitung erscheint, aber dafür der Geheimdienst, der NKWD, bei ihm: „Warum haben Sie die Aussagen unseres Ministers Molotow verfälscht?“

Eine lebensgefährliche Frage. Wer sie überlebt, bekommt augenblicklich ein Gefühl für Quellenlagen und Präzision. Und woran sonst sich halten, auch später, in einer von Ideologemen erstickten Zeit? Die Russen, hat er erfahren, waren immer wieder anders als ihre eigene Propaganda. Gibt es gar eine subversive Kraft des geschichtstiefen Tatsächlichen?

Großideologeme sind Feindideologeme, sie setzen den anderen als Fremden voraus. Der Zeitzeuge Meyer wird den Historiker Meyer von Anfang an vor solcher Fremdheit bewahren. Er wird ihn immer Kontakte suchen lassen, wo andere sie scheuen.

1947 wird Klaus Meyer aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Zehn Jahre später fährt ein eben am Osteuropa-Institut der FU Berlin promovierter Doktor zurück in die Sowjetunion. Er kommt als Gast, die Reise ist eine Ehrung. Und in der Sophienkathedrale von Kiew hält er seiner Fremdenführerin und anderen Russen einen kleinen Vortrag über die Kiewer Rus. Sie alle können die altslawischen Inschriften ihrer Kirchen nicht mehr lesen.

Noch einmal zehn Jahre später sitzt manchmal einer seiner Studenten bei ihm zu Hause. Er hat jene Unbedingtheit, jene Detailtiefe in Sachfragen, die Meyer schätzt. Aber auch eine neue Anfälligkeit für weltanschauliche Grundsätzlichkeiten und Großideologeme. Es ist Rudi Dutschke. Am Institut wird man Meyer bald den „Roten Meyer“ nennen. Weil er mit den Studenten spricht.

Professoren kann man pensionieren, Zeitzeugen nicht. Das Buch über den Siebzehnjährigen im Zementwerk „Bolschewik“ wollte Klaus Meyer noch schreiben. Er hat es nicht mehr geschafft. Kerstin Decker

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