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Harter Kampf. Kneipen wie das Aller-Eck im Schillerkiez, hier im Jahr 2013, haben es nicht immer leicht.

© Mike Wolff

Kneipensterben in Berlin: Die Ecke für alle gibt's nicht mehr

Einst traf hier Brigitte Mira den Mann von der Straße, doch immer seltener ist die Berliner Eckkneipe, was sie mal war: ein Ort für jedermann. Schade eigentlich. Ein paar nüchterne Gedanken zur Kneipenkrise.

Im Osten Frankreichs, in einem kleinen Minenstädtchen südlich von Lyon, betrieb meine Großmutter ein Bistro. Meist waren eine Handvoll Gäste da, vom Frühstück übrig oder schon für den Aperitif, je nach Uhrzeit. Manche spielten im Hinterzimmer am Baby-Foot, dem Tischkicker, andere saßen am Tresen bei Kaffee oder Wein oder ließen sich von einem der Lokalpolitiker bequatschen, die im Bistro ihre Sprechstunden abhielten. Um fünf Uhr, wenn in der Mine Schichtwechsel war, wurde es voll. Auch noch später, als die Mine schon lange geschlossen war, war um fünf Stoßzeit. Das Bistro war das gesellschaftliche Zentrum des kleinen Ortes. Ein Lokal für Gemeinschaft, für Austausch und Information, Freizeit und Feierabend.

Als ich später kurze Zeit in Paris lebte, waren es Bistros, die meinen Tag strukturierten. Ich frühstückte im Bistro, saß abends mit einem Buch darin, traf mich mit Kollegen oder Freunden. Manchmal arbeitete ich in einem Bistro. Wenn ich ein Bistro betrat, fühlte ich mich gleich zugehörig.

„Das Bistro ist der Ort einer Vermischung der Gattungen, von Tragödie und Komödie, der nichtssagenden Worte und des vielsagenden Schweigens, des lauten Lachens, des unterdrückten Seufzers und der diffusen Melancholie“, beschreibt der Ethnologe Marc Augé dieses Gefühl in seinem Band „Das Pariser Bistro“, der 2016 im Berliner Verlag Matthes & Seitz auf Deutsch erschien. Der 81-Jährige erinnert sich darin an seine Zeit mit Jean-Paul Sartre in den Bistros des Quartier Latin. Er berichtet von Abenden, an denen er als Student mit Professoren diskutierte und später als Professor mit Studenten. Er beschreibt die Kellnerin im Bistro unter seiner Wohnung, seziert ihre Choreografie rund um das „Nervenzentrum“ Tresen, der, wie Augé es ausdrückt, niemandem gehört und jedem einen Platz bietet. Man muss nicht in einem Bistro gewesen sein, um „das Bistro“ zu kennen, schreibt Augé. Es ist eine Art immaterieller Kulturort, dessen Nennung auch außerhalb Frankreichs klar umgrenzte Vorstellungen hervorruft.

Seitdem ich in Berlin wohne, frage ich mich manchmal, ob es hier so einen Ort gibt. Und wenn ja, wo. Einen Ort für Jung, Alt, früh, spät, oben, unten. Ich habe mir Sachbücher und Bildbände aus den vergangenen drei Jahrzehnten bestellt. Über Gastronomie in Berlin, vor allem über die Berliner Eckkneipe. Weil ich darin diesen Ort vermutete. Das Erste, was ich gelernt habe: Die Eckkneipe muss nicht an einer Ecke sein. Das Zweite: Ich bin mir nicht sicher, ob sie das ist, was ich suche.

Manchmal wird die Kneipe durchgelüftet, ins Treppenhaus

Die „Kneipe“, das ist eigentlich ein Ort für einen studentischen Umtrunk. Seit dem 18. Jahrhundert wird das Wort für Bierschänken verwendet. Später auch für Weinstuben, für Lokale mit und ohne Küche, größere und kleinere Etablissements. 1831 schrieb C. B. von Ragotzsky in seinem studentischen Wörterbuch „Der flotte Bursch“: „Kneipe wird im Allgemeinen jedes Wirtshaus genannt.“ Was die so subsumierten Lokalitäten verband, war ihr Zweck: „Knipen“ heißt im Mittelhochdeutschen so viel wie „enges Zusammensein“.

Im „Spiegel“ stand 1975: „Der Mensch im Wirtshaus lebt nicht vom Bier allein.“ Und weiter: Eine Untersuchung der „Gesellschaft für Marktforschung“ habe ergeben, dass Gaststätten zu fast 70 Prozent „aus sozialen Motiven“ aufgesucht würden – vor allem, „weil ich mal in anderer Umgebung sein möchte“, „um Freunde und Bekannte zu treffen“ und, nicht zuletzt, „weil ich dort meinen Stammtisch habe“. Ein Wohnzimmer im Öffentlichen also, wo vor dem Wirt alle gleich sind.

Dem grassierenden Kneipensterben offenbar nochmal knapp entgangen: Das Wilhelm Hoeck in Charlottenburg soll wieder eröffnen.
Dem grassierenden Kneipensterben offenbar nochmal knapp entgangen: Das Wilhelm Hoeck in Charlottenburg soll wieder eröffnen.

© Cay Dobberke

Im Erdgeschoss des Berliner Hauses, in dem ich wohne, ist eine Eckkneipe. Würde ich mich in meinem Schlafzimmer auf den Boden legen, die Ohren ans Parkett, könnte ich direkt in die Unterhaltungen lauschen. Mittwochs ist Livemusik, da höre ich die Kneipe, selbst wenn ich es nicht will. Manchmal wird die Kneipe durchgelüftet, ins Treppenhaus, dann rieche ich sie. Und manchmal, wenn ich morgens aus dem Haus gehe und in Erbrochenes trete, verfluche ich die Kneipe.

Ich betrete sie selten. Wenn ich reingehe, bleibe ich meist nur kurz. Einmal aber kam ich früh und blieb lang. So lang, dass ich das erste Mal den Schichtwechsel beobachtete. Zwischen denen, die hier schon immer waren. Und denen, die jetzt auch manchmal da sind.

Um 21 Uhr beginnt der Schichtwechsel

Am Tresen rechts neben mir saß ein Mann, Ende 40, braune, lichte Haare, beiger Mantel. Vor ihm: ein Collegeblock, eine Tageszeitung, ein Taschenrechner. Der Mann tippte Zahlen in das Gerät, murmelte, tippte, notierte und murmelte „hmjaa“. Ab und zu nahm er einen Schluck aus seinem Wasserglas. Links von mir saßen ältere Herrschaften mit halbleeren Bieren. Einer presste in Intervallen seine Lippen zusammen, murmelte manchmal und nickte viel. Ein anderer ruhte sich auf seinen verschränkten Armen aus, die wiederum auf seinem runden Bauch abgelegt waren. Hinter ihnen saßen ein paar Männer mit Glatzen und Frauen mit Dauerwellen und tiefen Augenringen. Immer wieder tönte von dort ein kehliges, rasselndes Lachen durch den Raum. Und wenn das Lachen endete, begann das Husten.

Immer, wenn die schwere braune Eingangstür ins Schloss fiel, wurde es kurz still, die Leute im Gastraum beobachteten die Neuankömmlinge und umgekehrt. Dann konzentrierte sich jeder wieder auf das Seine.

Um 21 Uhr aber begann der Schichtwechsel. Die Tür öffnete sich in kürzeren Abständen. Die Menschen, die den Raum betraten, schienen jedes Mal jünger und aufgedrehter. Und die, die ihn verließen, blieben alt. Wenn junge Frauen durch die Tür kamen, richteten sich die Alten auf ihren Hockern auf, drückten den Rücken durch und zogen ihre schlaffen Hemdkrägen zurecht. Wenn junge Männer mit gestylten Haaren reinkamen, höhnten die Alten ein bisschen und wandten sich wieder ihren Gläsern zu.

Die Bedienung sprang immer hektischer zwischen den Tresenenden hin und her, die Alten tranken immer zögerlicher. Und wenn ein Alter seinen Hocker aufgab, legten die Jungen ihre Jacken drauf und stellten sich drumrum. Der Raum war lauter, voller, stickiger geworden. Und lebendiger.

Ich ging um kurz nach Mitternacht. Die älteste Person im Raum war zu diesem Zeitpunkt die Enddreißigerin hinter dem Tresen.

Vielleicht betrete ich die Kneipe in meinem Haus nur selten, weil sie mir zu nah ist. Regelmäßig lande ich aber an vergleichbaren Orten. Kneipen, die diesen ähnlichen Aufbau haben. Hölzerner Tresen, Wanddekor mit den Hügeln deutscher Lande, röhrende Hirsche und Wagenräder. Emailleschilder mit historischer Trinkbestärkung, wo Biere als „frisch und würzig“ oder „bekömmlich und gehaltvoll“ beworben werden. Handgeschnitzte Bierkrüge auf der Holzverkleidung über dem Tresen. Lustige Sprüche wie „Hopfen und Malz erleichtern die Balz“. Die alten Herren, die blondgefärbten Haare der Bedienung.

Ist das das Berliner Pendant zum Ort der Gemeinsamkeit, den Augé im Pariser Bistro findet? Immerhin: Als Oberbegriff für einen Ort, von dem jeder eine Vorstellung hat, scheint die Kneipe so gut zu taugen wie das Bistro.

Den vollständigen Text finden Sie am 21. Januar 2017 in unserer gedruckten Sonnabendbeilage Mehr Berlin sowie im Online-Kiosk Blendle.

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