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Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Im Tagesspiegel schreibt sie einmal pro Woche über ihre Heimat.

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Kolumne "Meine Heimat": Asyl bei mir

Unsere Kolumnistin Hatice Akyün würde Edward Snowden sofort Asyl geben. Für ihn hat sie schon mal das W-Lan-Passwort geändert - und hat auch schon eine Idee, wie er bei ihr im Kiez am besten untertauchen könnte.

Ich habe mein Gästezimmer gelüftet, das Bett neu bezogen und mein W-Lan-Passwort geändert. Man weiß ja nie, wer so alles demnächst in Berlin aufschlägt. Ganz getreu dem Motto „Der beste Beweis für die Absicht ist die Tat“ würde ich Edward Snowden sofort aufnehmen. In keiner anderen Stadt kann er besser untertauchen als bei uns. Und sieht er nicht genauso aus wie ein Neustudent, Start-up-Unternehmer, Kulturmigrant, Selbstverwirklicher oder Hertha-Fan? Gut, eine neue Identität und ein neuer Pass wären nicht schlecht.

Da reist also ein Ein-Mann-Ausschuss für Bürgerrechte mal eben nach Moskau, um den amerikanischen Staatsfeind Nummer 1 zu treffen. Zu jenem Mann, ohne den wir nicht wüssten, dass wir seit Jahren eine digitale Besatzungszone sind. Sie kennen das ja, wer gegen den Strom schwimmt, wird zuerst ignoriert, dann problematisiert, dann stigmatisiert oder gleich zum Verbrecher erklärt. Mit seiner Salamitaktik hat Snowden den Spannungsbogen bislang aufrecht gehalten. Wenn nun sogar Konservative wissen möchten, welche Unmöglichkeiten sonst noch möglich gemacht wurden, fordere ich: Holt den Kerl zu uns nach Berlin!

Natürlich wäre es für ihn zunächst ein interkultureller Schock. Während die Amis, vorwiegend in Las Vegas, alles Geschichtsträchtige aus Old Europe nachbauen, hängt bei uns nicht nur leere Fassade, sondern auch Geschichte und Entwicklung mit dran. Zugegeben, das Disney-Stadtschloss zähle ich nicht dazu. Wenn Edward Schönheiten wie Charlottenburger Schloss, Domäne Dahlem, Kottbusser Tor, Helmholtzplatz, Oranienburger Straße und Alex samt Alexa gesehen und die extralange Spreefahrt hinter sich hat, wird er erkennen, dass er in Berlin seine Identität leben, wechseln oder anonym in Parallelwelten existieren kann. Ich führe ihn gerne ein in die Lebenswirklichkeit des digitalen Prekariats.

Um von der Hand in den Mund zu leben, braucht es auch nicht viele Datenspuren. Tauschhandel, Schwarzarbeit, Second-Hand-Luxus und Handschlaggeschäfte sind hier seit Jahren im Vormarsch. Nicht der verfügbare Besitz ist in Berlin entscheidend, nein, die Verfügbarkeit von Sachen, die Zweiten und Dritten gehören, aber keine Spur zu einem selbst weisen. Die Amis werden ihn in Berlin niemals aufspüren, und meine Nachbarn mischen sich sowieso nie in etwas ein. Überhaupt: Versteinertes Schweigen ist in Berlin Staatsräson. Hier wird dichtgehalten, nichts dringt nach außen. Damit er endgültig von der wahrnehmbaren Erdoberfläche verschwindet, machen wir Edward zum SPD-Mitglied. Beim Chefschweiger im Roten Rathaus kann er zusätzlich ein Praktikum absolvieren und lernen, wie man sich in Berliner Luft auflöst oder ganz tot stellt.

Du kommst als Fremder und gehst als Freund, heißt es bei den Türken. Wenn Edward doch mal Heimweh haben sollte, gehe ich mit ihm zu meinem türkischen Burgerladen. Da muss er nur „mit alles“ akzentfrei herausbekommen und niemand käme auf die Idee, dass er der meistgesuchte Mann der Welt ist. Oder wie mein Vater sagen würde: „Dogru söyleyeni dokuz köyden kovarlar.“ Wer die Wahrheit sagt, wird aus neun Dörfern verjagt.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Lesen Sie hier vergangene Stücke aus ihrer Kolumne "Meine Heimat".

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