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Wenn am Brandenburger Tor eine Überwachungszentrale steht, haben die Menschen aus der Vergangenheit nichts gelernt.

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Kolumne "Meine Heimat": Kein Grund, die Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken

Die NSA bespitzelt und überwacht. Hatice Akyün will gar nicht wissen, was die Menschen auf den Straßen denken. Das ist viel zu anstrengend und unter einem staatlichen Überwachungswahn haben die Berliner schon in der Vergangenheit genug gelitten.

Ich höre Stimmen. Ungefiltert nehme ich die Gedanken der Menschen um mich herum wahr. Angefangen hat alles eines Morgens beim Bäcker. Die freundliche Verkäuferin hinter dem Tresen überlegte die ganze Zeit, warum ihr Mann letzte Nacht nicht nach Hause gekommen war. Mein Roggenmischbrot war ihr völlig egal. Sie nickte zwar freundlich, war aber überhaupt nicht bei der Sache. Später in der U-Bahn hörte ich ein Stimmengewirr, so dass ich nach drei Stationen erschöpft von den Gedanken der Menschen aussteigen musste. Es ging ums Blaumachen, die Praktikantin, die mit ihrem Chef schlief, die Mitarbeiterin des Bundestagsabgeordneten, die ihren Vorgesetzen für völlig unfähig hielt, den Studenten, der seinem Professor für einen Schein die Literaturrecherche machte, die Hausfrau, die heimlich Geld für eine Kenia-Reise beiseitelegte.

Wie schrecklich, dass ich nun von jedem alles weiß

Überfordert von den ganzen Gedanken, setzte ich mich in ein Café in Mitte. Während ich noch überlegte, ob ich Latte oder Kaffee nehmen sollte, stand die Bedienung vor mir und dachte, sie habe nicht zwölf Semester Ethnologie studiert, um als Kellnerin zu enden. Jetzt wurde mir alles zu bunt, ich kippte einen doppelten Espresso in mich hinein und ging wieder auf die Straße. Dort begegnete ich einer alten Frau, die darüber sinnierte, wie sie die letzten Jahre ihres Lebens von ihrer mickrigen Rente überleben sollte.

Zu Hause legte ich mich vor den Fernseher. Ich sah den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Robert Zollitsch, der erleichtert von der Papst-Entscheidung erzählte. Dabei hörte ich doch glatt, was er dachte. Wie gern würde er den Bischof Tebartz-van Elst gegen Hartmut Mehdorn tauschen wollen. Der Allesretter könnte die Nasszelle des Bischofs einer marktgerechten Verwendung zuführen, und der Bischof neue Erfahrungen mit Großprojekten sammeln. Zum Glück kam noch Philipp Rösler auf den Schirm, und das tat richtig gut. Der dachte nämlich rein gar nichts.

Wie schrecklich, stellte ich fest, dass ich nun von jedem alles weiß.

In Lichtenberg stand schon einmal ein Gebäude des Misstrauens

Es leben mehr als drei Millionen Menschen in Berlin. Von jedem Einzelnen jede Bewegung und jede Aktion zu erfassen, zu filtern und zu archivieren, um den einen potenziellen Bombenleger dingfest zu machen, hat mit Verhältnismäßigkeit nichts mehr zu tun. Wer nichts zu verbergen hat, den beglückwünsche ich. Umso weniger ein Grund, seine Nase in andere Angelegenheiten zu stecken.

In Lichtenberg stand schon einmal ein Gebäude des Misstrauens. Das konnte nicht verhindern, dass Menschen sich ihre Freiheit nehmen. Wenn es sich jetzt bewahrheiten sollte, dass am Brandenburger Tor eine neue Überwachungszentrale steht, hat man rein gar nichts aus der Vergangenheit gelernt. Die Menschen haben die Mauer nicht niedergerissen, damit ihre Rechte einem neuen Sicherheitswahn geopfert werden.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Dost aci söyler.“ Ein Freund sagt auch bittere Wahrheiten.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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