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Während alles um einen herum in Großstadthektik abläuft, läuft manchmal nur die Nase.

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Kolumne "Meine Heimat": Virale Einsamkeit in der Großstadt

Hatice Akyün kostet ihre Erkältung mal so richtig aus. Ihr Heilmittel: So schnell wie möglich wieder nach vorne und angreifen.

Mich hat es erwischt, und zwar richtig. Ob ich es mir beim Abradeln der Lichtmauer vergangenes Wochenende eingefangen habe oder es dem Wetter geschuldet ist, bei dem man entweder morgens friert, weil man zu dünn angezogen ist, oder mittags schwitzt, weil man zu warm angezogen war, spielt jetzt keine Rolle mehr.

Eigentlich ist eine Erkältung bei dieser Jahreszeit auch gar keiner weiteren Erwähnung wert, abgesehen davon, dass sie einen zwingt, den Tag in gefühlter Zeitlupe durchstehen zu müssen. Während alles um einen herum in Großstadthektik abläuft, läuft mir die Nase, meine Ohren sind zu und der Hals brennt.

Könnte ich doch nur auf die Anteilnahme meiner Mitmenschen zählen. Sogar meine Tochter nutzt intuitiv meine deutlich dumpfere Wahrnehmung aus und triumphiert über mein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Was mir allerdings nicht verborgen bleibt, ist der Umstand, dass wir Frauen still vor uns hinleiden, während Männer im Bus, in der S-Bahn und im Büro spontan ambulante Selbsthilfegruppen gründen und sich wechselseitig ihr Leiden, die mannhaft ertragene Pein und die Einzigartigkeit ihres grippalen Infektes erläutern. Gemessen an der Heftigkeit, mit der Männer ihren Schnupfen zu Markte tragen, könnte man meinen, sie stünden kurz vor einer drohenden Epidemie.

Einen wichtigen Termin dopte ich mit Hustenblocker, Nasenspray und Aspirin, um ihn einigermaßen zu überstehen. Absagen kam nicht infrage. Die aufgequollenen Augen und die rote Nase versteckte ich unter dicker Schminke, so dass der Veranstalter mein blendendes Aussehen lobte, um gleichzeitig das eigene heldenhafte Erscheinen unter schwerster Medikation, konsultiert durch ein Ärzteteam, als Opfergang zu feiern.

So schnell wie möglich wieder nach vorne und angreifen

Dank der Solidarität der Charlottenburger Mütter konnte ich doch noch einige Stunden das Bett hüten, weil sie mich vom Schulbringdienst befreiten. Nun lag ich mutterseelenallein im Bett und dachte an meine Kindheit. Als krankes Kind durfte ich auf der Couch neben dem Kohleofen im Wohnzimmer schlafen. Der Fernseher lief und auf Zuruf wurde ich mit Keksen und heißem Tee verwöhnt. Meine Mutter rieb mich mit Pinimenthol ein und machte mir Wadenwickel. Ich fühlte mich geborgen und umsorgt.

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein und träumte, benommen vom Fieber, von einem Lottogewinn. Anstatt mich zu freuen, verteilte ich das Geld unter meiner Familie und meinen Freunden. Man warf mir aber vor, ich hätte das Geld nicht gerecht genug geteilt, so dass jeder meiner Schritte kontrolliert wurde, ob ich denn nun Vorteile für mich in Anspruch nahm, die ich anderen vorenthielt.

Sogar meine Fieberträume sind derart negativ, dass mir auch die letzte Zuflucht aus meiner Erkältung, etwas Heilendes für meine Seele, verwehrt bleibt. So bleiben mir nur zwei Erkenntnisse: Man sollte, wenn man schon muss, aktiv leiden und die Last konsequent auf viele Schultern legen. Und wenn man ungewollt aus dem Alltag gerissen wird, hilft der Rückzug ins Private nur, wenn es ein erstrebenswerter Ort ist. Ansonsten gilt für die Großstadt: So schnell wie möglich wieder nach vorne und angreifen, auch wenn man doch nur wieder vor sich selbst wegläuft.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Günes girmeyen eve doktor girer.“ In ein Haus, in das keine Sonne scheint, kommt der Doktor.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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