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Deutsche Touristen im Urlaub wollen sich nicht an Regeln halten.

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Kolumne "Meine Heimat": Volksmusikantenpärchen auf dem Egotrip

Der Alltag ist voller Regeln, sogar im Urlaub ist man nicht davor gefeit. Und wenn ein Edelgreis denkt, diese einfach brechen zu können, bekommt er es mit Hatice Akyün zu tun.

Als Moses vom Berg herabstieg und die Zehn Gebote verkündete, war ja keiner dabei, der hätte bezeugen können, wie er sie erhielt. Das macht die Regeln nicht weniger vernünftig. Vielleicht wären die Flüchtigen über kurz oder lang selbst darauf gekommen. Aber Moses bekam sie von ganz oben, das verlieh ihnen Kraft. Und er selbst stand als Überbringer besser da. Gute Kontakte nach oben waren schon immer hilfreich.

Mir ging das durch den Kopf, als ich nach einem Verwandtenbesuch aus der Türkei zurückflog. Die Konditionen im Billigflieger sind grenzwertig: kaum Gepäck, keine Verpflegung, Sitzreihen so eng, dass man meinen möchte, es ginge um den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, wie viel DNA man auf einen Quadratmeter Flugzeug zu quetschen vermag. Aber dafür fliegt man für ’n Appel und ’n Ei quer durch Europa. Also muss man da durch und die Klappe halten.

Wenn ich nur eine bestimmte Menge Gepäck mitnehmen darf, ist es eben eine bestimmte Menge. Oder ich zahle einen Aufpreis. Oder ich halte den Betrieb beim Einchecken auf und zahle an Ort und Stelle. Oder ich nehme gegen die Regeln noch drei Stück Handgepäck zusätzlich mit in den Flieger, was die entnervten Mitarbeiter am Check-in durchgehen lassen und als Chaos ans Kabinenpersonal weiterreichen. Merke: Regeln, an die sich niemand halten muss, obwohl sie sinnvoll sind, entwerten das Regelwerk.

Tugendhafte Hüterin aller Sitten

Was dann aber meine mühsam erkämpfte Urlaubserholung in der Agäis-Sonne dahinschmelzen ließ, war die Unverschämtheit, mit der sich ein teutonischer Pensionär unter den Absperrungen in Limbo-Manier durchturnte, um sich in der Schlange an den Wartenden vorbei nach vorne zu drängen. Ein Mann, Modell Luis Trenker, samt Gattin im Maria-Hellwig-Look tauchten unter der Absperrbanderole vor mir wieder auf. Höflich zur Rede gestellt, riet mir der Edelgreis, zu meinen Baldriantabletten zu greifen.

„Zum Glück“, antwortete ich ihm, „sind Sie in der Türkei, denn bei uns in Deutschland herrschen ja Regeln, deren Einhaltung Sie dann ab morgen wieder penibel einfordern können, besonders von solchen wie mir, die doch qua Herkunft nicht so korrekt sein können.“ Das überforderte mein Volksmusikantenpärchen auf dem Egotrip, die Umstehenden pflichteten mir bei, zogen es aber im Moment des Geschehens vor, kollektiv die schweigende Masse zu mimen. Regeln, deren Nichteinhaltung ohne Sanktionen bleiben, laden zum Übertritt ein.

Denken Sie jetzt nicht, ich sei die tugendhafte Hüterin aller Sitten. Auch ich begehe im Alltag Regelverstöße, manchmal mit schlechtem Gewissen, meist aus Bequemlichkeit oder weil es schlichtweg nicht anders geht. Nur macht es einen Unterschied, ob man es korrigiert und weiß, dass es falsch war, oder ob man sich schlichtweg herausnimmt, dass bestimmte Dinge für einen selbst nicht gelten. Denn irgendeine Richtschnur fürs Verhalten miteinander gibt es. Meist gehorchen sie der Vernunft, überwiegend aber, weil es dann für alle besser läuft. Oder wie mein Vater sagen würde: „Istisnalar kaideyi bozmaz.“ Die Ausnahme macht die Regel nicht ungültig.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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