zum Hauptinhalt

Kommentar zum Ergebnis des Zensus: Freut euch über den Schwund!

180 000 Berliner sind verschwunden, jedenfalls aus dem Melderegister – ein Schlag für eine Stadt, die ihre Größe so liebt. Dabei konnte den Behörden nichts Besseres passieren als der neue Zensus: Weniger Berliner machen weniger Stress.

Tja, das Ergebnis der Bevölkerungszählung hat die Stadt an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen – nein, nicht an der Landeskasse, sondern am Selbstgefühl. Berlin, das sind bloß noch 3,3 Millionen Menschen: „Knapp“, wie jetzt alle sagen. Der Zensus hat die Stadt geschrumpft, die sich so schön ans „Immer mehr“ gewöhnt hatte: immer mehr Einwohner, Kinder, Touristen, Wirtschaftswachstum. Dabei hatte Stadtentwicklungssenator Michael Müller erst vor sechs Monaten die Senats-Bevölkerungshochrechnungen vorgestellt: 3,75 Millionen Berliner im Jahr 2030. Auf Berlinisch gesagt: Vier-Millionen-Stadt!

Schade, dass Senatssitzungen nicht öffentlich übertragen werden. Wie das Senatorenkollektiv am Dienstag von der Chefin des Statistischen Landesamts wissen wollte, was bei der Bevölkerungszählerei alles falsch laufen musste, damit beim Zensus 180 000 Berliner weniger herauskamen – das hätte man doch gern live erlebt. Auch wenn es bloß wiederholtes „Wir prüfen noch“ und „Wir klären das“ gewesen wäre.

Dabei konnte der Stadt und ihrer Verwaltung nichts Besseres passieren als dieser Zensus-Schock mit Folgen. Okay, eine Einschränkung: Es wird nichts mit dem ausgeglichenen Haushalt 2015. Die Stadt muss 940 Millionen Euro an den Bund zurückzahlen, weil sie zu viel aus dem Länderfinanzausgleich bekommen hat. Aber wir sind in Berlin, wir machen das Beste aus dem Schreck.

Politisch und planerisch heißt das Motto jetzt: de-hysterisieren. Weniger aufregen, auch wenn es schwerfällt. Nicht rund 3,4 Millionen Menschen balgen sich um Wohnungen, sondern nur knapp 3,3. Das macht es nicht leichter, wenn man dringend eine Fünf- oder Sechs-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg mit Blick auf den Park sucht. Doch der Markt wird sich entspannen. Er lebt – auch – von der behaupteten Nachfrage. Wenn die Stadt also doch nicht ganz so drängend bewohnt wird, wie es Wohnungsvermittler gern hätten, und sich das Zensus-Ergebnis erst bis in die Innenräume nobler Maklerlimousinen herumgesprochen hat, dürfte sich die Lage zugunsten der Nachfragenden ändern.

Vergessen wir die Klaus-Wowereit-Gedenkbibliothek!

Die Behörden sollen derweil schön weitermachen mit dem Bewilligen von Bauanträgen. Denn dass es in den kommenden Jahren eher Zuzug in die Stadt geben wird als Einwohnerschwund, kann man für wahrscheinlich halten, trotz oder mit der Senatsplanung. Damit sind wir bei den verwaltungstechnischen und den, mundartlich gesagt, polit-fillesofischen Folgen des Zensus.

Das kollektive Erleichterungsseufzen in den Diensträumen von so ziemlich allen Bezirks- und Senatsbeamten, die mit Bau-, Verkehrs-, Kita- und Schulplanung befasst sind, kann man sich vorstellen: Weniger Einwohner bedeuten weniger Planung, weniger Stress, weniger Ärger. Eine schöne Aussicht – zumal dann, wenn einem die Politiker vorher immer das Gegenteil angedroht haben: mehr Arbeit für weniger Beamte. Kein Wunder, dass bei diesem Druck der Krankenstand im Berliner öffentlichen Dienst stets höher war als in den meisten anderen Bundesländern.

Ohnehin gehört Planung nicht zu den ganz großen Stärken dieses Senats und seiner Vorgänger seit 1950. Freuen wir uns darüber, dass die Anzahl der Lehrer zu Beginn des kommenden Schuljahrs einigermaßen zur Anzahl der Schüler und Schulen passen soll. Beschweigen wir den Flughafen. Denken wir nicht daran, was in Tegel an Start-up-, Industrie- und Forschungsflächen bebaut werden könnte, wenn dort keine Flugzeuge mehr flögen. Vergessen wir die Klaus-Wowereit-Gedenkbibliothek – es wäre schon toll, wenn Bibliotheken so lange aufhätten wie manche Supermärkte. Denken wir nicht an den Winter und die Zumutungen, die er für den Betrieb der S-Bahn mit sich bringen wird. Denken wir nicht an all die Versuche, in der Stadt so etwas wie eine Bau- und Staustellen-Koordination hinzubekommen. Gucken wir nicht ins „Schaufenster Elektro-Mobilität“. Kann sich noch jemand daran erinnern, dass in den frühen Neunzigern Verkehrspolitiker großräumige „Park and ride“-Konzepte ankündigten? Das waren noch Zeiten! Da rechneten sie im Senat mit fünf Millionen Berlinern!

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false