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Berlin: Kommt ein Ziegel geflogen

Von Stefan Jacobs In den Obstbäumen trällern Vögel, die Hecken sind rechtwinklig gescheitelt, der Wohlfühlfaktor für Gartenzwerge könnte kaum größer sein. Aber sie und die anderen Bewohner der Siedlung am Hohenzollernkanal in Tegel leben gefährlich: Alle paar Minuten nähert sich ein Rauschen, schwillt zum Heulen an und fegt als kreischender Schatten über die Häuser.

Von Stefan Jacobs

In den Obstbäumen trällern Vögel, die Hecken sind rechtwinklig gescheitelt, der Wohlfühlfaktor für Gartenzwerge könnte kaum größer sein. Aber sie und die anderen Bewohner der Siedlung am Hohenzollernkanal in Tegel leben gefährlich: Alle paar Minuten nähert sich ein Rauschen, schwillt zum Heulen an und fegt als kreischender Schatten über die Häuser. Dann hört man wieder die Vögel zwitschern. Und manchmal ein paar Dachziegel herunterscheppern. Zuletzt am vergangenen Sonntag um 10 Uhr 39. Diagnose: Wirbelschleppe, also heftiger Sog hinter einer landenden Maschine.

Es war Marion Honekamps zwölfter Dachschaden. Die 61-Jährige – „Ich werde ja auch immer schlauer“ – wusste, was sie zu tun hatte: ab in die Stube, Fernseher an, genaue Zeit notieren. Damit sie sich von der Flughafengesellschaft nicht wieder anhören muss, dass ihre Uhr ja falsch gehen könnte und die schuldige Maschine nicht ermittelt werden kann. Denn zwei Minuten zuvor war ja auch eine vorbeigeschwebt und zwei Minuten danach auch. Frau Honekamp rief die Polizei, die den Vorfall als Sachbeschädigung abheftete. Der Nachbar baute die vier Ziegel wieder an. Abgesehen von ein paar abgeplatzten Ecken waren sie heil geblieben, denn das Schneefanggitter hatte sie gestoppt.

Das Gitter hat die Familie 1997 anbringen lassen, nachdem dem damals dreijährigen Marc bei einer Tretautorunde gleich eine ganze Reihe Ziegel – Startgewicht je fünf Kilo – direkt vor die Räder gescheppert war. Weil zufällig eine Menge Leute im Garten saßen und mehrere Fernsehteams anrückten, bekam Frau Honekamp ohne langen Briefwechsel den Dachdecker bezahlt. Auf den 1400 Mark für das Schneefanggitter blieb sie allerdings sitzen.

Nach insgesamt knapp 60 Wirbelschleppenschäden gibt es in der Siedlung am Hohenzollernkanal zahlreiche Experten für Anflugrouten und Dachsicherungen: Die Leute wissen, dass man Ziegel für viel Geld ankleben lassen kann, wobei dann aber das Dach komplett wegfliegen könnte. Sie wissen, dass Jets auch Dachfenstern Flügel verleihen und Wäscheständer hinter sich her ziehen können. Sie bemerken noch den leisesten Ostwind, denn nur dann schweben die landenden Flugzeuge so knapp über ihre Köpfe. Gestartet wird steiler, so dass die Jets bei Westwind schon hoch genug sind. Gefährlich werden ihnen auch nur Benutzer der nahen Nordbahn. Ungeklärt ist noch, warum es meist das Dach bei Honekamps trifft. Die Frage, warum es die 60 Jahre alte Siedlung erst seit dem Mauerfall ständig erwischt, ist überhaupt noch offen. Je mehr Betrieb ist, desto flacher wird gelandet, vermuten sie in der Einflugschneise. „Eigentlich passiert nur was, wenn die Maschinen ein paar Meter zu tief fliegen“, sagt eine Flughafensprecherin.

Nach den ersten Vorfällen hat die Flughafengesellschaft den Leuten noch geschrieben, dass die Jets nicht schuld an den Dachschäden sein müssten. „Als würden sich die Vöglein aus den Ziegeln ein Nest bauen“, sagt Marion Honekamp. Inzwischen rückt der Flughafen durchaus den n des mutmaßlichen Verursachers heraus. Im besseren Fall war es die gut versicherte Lufthansa, im schlechteren eine Airline mit Büro in Kalkutta. Dorthin schickt man dann einen Brief und bekommt manchmal Geld und meistens eine Abfuhr. Dann kann man nur noch auf die Kulanz der Flughafengesellschaft hoffen.

Die „Bürgerinitiative gegen das Luftkreuz“ verklagt zurzeit in Marion Honekamps Namen das Land auf Abhilfe. Die Senatsverwaltung verweist auf ihre Planung für den Großflughafen Schönefeld und bleibt ansonsten gelassen: An anderen Flughäfen hätten auch schon Leute geklagt – ohne Erfolg.

Frau Honekamp kann vorläufig also nur auf günstigen Wind und ihr Schneefanggitter hoffen. „Abstürzen kann eine Maschine schon mal“, sagt sie mit der Erfahrung von 61 Lebensjahren in der Einflugschneise. „Aber wenn mir gerade wieder ein paar Ziegel runtergekracht sind, fühle ich mich schon sehr unwohl.“

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