zum Hauptinhalt

Berlin: Konrad Michael Tybus (Geb. 1928)

Am schlimmsten plagte der Verrat der Mutter

Der 6. April 1966, ein Spionageflugzeug vom Typ Yak-28 gerät außer Kontrolle und droht über West-Berlin abzustürzen. Hauptmann Boris Kapustin und Oberleutnant Juri Janow gelingt es in letzter Sekunde, die Maschine am bewohnten Gebiet vorbeizusteuern. Das Flugzeug zerschellt im Stößensee, die Piloten kommen ums Leben. In Russland werden sie jährlich an ihrem Todestag geehrt. In Berlin gedenkt ihrer niemand.

Bis Konrad Tybus, gemeinsam mit seiner zweiten Frau, auf das Schicksal der Männer aufmerksam macht. 25 Jahre danach. Wenn sich sein Gerechtigkeitssinn empört, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Die Leserbrief-Redaktionen fürchten seine offenen Worte. Wer sich nicht einmischt, ist verantwortlich für das, was geschieht, hat sein Vater ihn gelehrt. Wer sich einmischt, verdient Achtung, auch über den Tod hinaus.

Konrad Tybus erinnert in einem seiner Leserbriefe daran, dass vor dem Stauffenberg-Attentat „bereits eine Vielzahl von einfachen Arbeitern, Bürgern, Schülern und Studenten Widerstand geleistet und hierfür den höchstmöglichen Preis bezahlen mussten. Es wäre traurig für unser Vaterland, wenn der Widerstand gegen den Nationalsozialismus erst am 20. Juli 1944 aktiv geworden wäre. Es wäre auch falsch, wenn das Märchen sich etablieren würde, dass der Adel es war, der Deutschland von der Tyrannei hat befreien wollen.“

Die Geschichte lehrt uns nur dann etwas, wenn wir denen zuhören, die unter ihr gelitten haben. Er geht an die Schulen, erzählt von seinem eigenen Schicksal, ermahnt die Schüler, „sich verdammt noch mal dafür einzusetzen, dass so etwas nie wieder geschehen kann“.

Sein Bruder und er waren zwei der Tausenden von „Kofferkindern“, die von ihren Eltern nach England geschickt wurden, damit sie in Sicherheit waren.

In London drückten Journalisten ihnen eine Tafel Cadbury Schokolade in die Hand. Sie wollten das Lächeln. Als sie die Fotos gemacht hatten, nahmen sie den Kindern die Schokolade wieder weg. Da gab es Tränen. Auch später noch im Heim. Die Mutter hatte ihn gut ausstaffiert. Das rächte sich: „Neue Hosen, einen Anzug, kurze Hosen, alles mögliche – was nicht besonders förderlich war. Denn dort, wo wir Unterkunft gefunden haben, in einem Heim für unerwünschte Kinder, da waren die nicht gut gekleidet und wir fielen sofort auf.“ Er musste sich durchbeißen. Zunächst in Dr. Barnardos Elementary School, wo die Kinder mit der Zahnbürste den Boden schrubben mussten. Das Essen war scheußlich, die Lehrer waren streng, und am schlimmsten plagte der Verrat der Mutter, denn als solchen empfand er ihre Entscheidung. Dieses Gefühl, von niemandem gewollt zu sein, muss schrecklich gewesen sein.

Rettung nahte in Gestalt von Miss Melmoth, einer grundgütigen Grundschullehrerin, die ihm den Glauben an sich selbst wiedergab und der er lebenslang verbunden blieb.

Konrad Tybus wurde zum Engländer, er studierte Bauingenieur, spielte Rugby. Er hätte in der neuen Heimat bleiben können, den Eltern war er längst entfremdet. Als er sie 1951 besuchte, bat ihn seine Mutter zurückzukehren. Er zögerte, da traf er Anneliese in der U-Bahn. Er sah sie, er liebte sie und überzeugte sie von sich. Was er tat, tat er rasch. „Dann hab ich’s hinter mir.“ Einer seiner Lieblingssprüche.

Die Eingewöhnung in Berlin war nicht einfach. Sein englischer Abschluss wurde nicht anerkannt. Er fuhr fürs Unternehmen seiner Eltern Lkw durch ganz Europa, worüber er seinen Kindern die spannendsten Geschichten erzählen konnte, arbeitete für eine Versicherung und fand eine Anstellung beim Senat.

Er zeichnete gern, puzzelte mit unendlicher Geduld, umsorgte seine Enkel und Urenkel. Nach dem Tod seiner Frau fand er eine neue Liebe, diesmal an der Bushaltestelle. Er war ein glücklicher Mann. Glücklicher konnte er nicht mehr werden. Da muss ihm der Gedanke gekommen sein: Jetzt sterben. „Dann hab ich’s hinter mir.“ Gregor Eisenhauer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false